Werner Otto ist im Alter von 102 Jahren gestorben. Mit 6000 Mark legte er in Hamburg den Grundstein für den weltgrößten Versandhandelskonzern.
Hamburg. Seine Lehrer dürften es nicht leicht gehabt haben mit Werner Otto. Der begabte Junge mit dem widerspenstigen, kurz geschnittenen Haarschopf brauchte gerade einmal zwei Wochen, um sich das gesamte Jahrespensum an Mathematik auf dem Gymnasium anzueignen. "In der restlichen Zeit langweilte ich mich", erinnerte sich Otto später. Latein und Griechisch waren ihm verhasst. "Den Mist brauchst du nie wieder", dachte er damals.
Stattdessen trieb der Junge lieber Sport oder streifte durch die Natur. Und er schrieb. Alltagsgeschichten, eine Familiensaga. Der Norweger Knut Hamsun fesselte ihn mit seinem Bild des Menschen als Wanderer. Schriftsteller wollte er werden. "Ich träumte davon, meiner Umwelt meine Gedanken mitzuteilen", begründete Otto seine Leidenschaft später.
Dieses Ziel hat der Sohn eines Lebensmittelhändlers aus dem brandenburgischen Seelow erreicht, allerdings in einer gänzlich anderen Weise, wie er es sich damals, als 14-Jähriger vorgestellt hatte. Der Name Otto ist heute quasi zu einem Synonym für den Versandhandel in Deutschland geworden. Werner Otto legte den Grundstein für einen Weltkonzern mit fast 50 000 Mitarbeitern. Zu dem weit verzweigten Hamburger Familienimperium der Ottos zählt nicht nur der Versand, sondern auch der größte Shoppingcenterbetreiber in Europa.
+++ Porträt: Werner Otto war der letzte legendäre Nachkriegsunternehmer +++
Wie erst jetzt bekannt wurde, verstarb der Unternehmer mit 102 Jahren am vergangenen Mittwoch im Kreise seiner Familie in Berlin. Er soll nach einer Trauerfeier im Französischen Dom der Hauptstadt im engsten Familienkreis auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg beigesetzt werden.
Mit Otto verliert das Land nicht nur einen der letzten Väter des deutschen Wirtschaftswunders, sondern auch einen der großen Stifter und Mäzene. "Werner Otto - das ist für mich die Lust auf kalkuliertes Experiment unter der Vermeidung großer Worte, großer Gesten, großer Gefühle - ein schnörkelloser, zielstrebiger Mann", sagte Altbundeskanzler Helmut Schmidt über den Unternehmer, der zu seinen langjährigen Weggefährten zählte.
Zu dem großen wirtschaftlichen Erfolg Ottos dürften sein Mut und seine Weitsicht beigetragen haben, vor allem aber auch seine Bereitschaft, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. "Erkenne deine Fehler! Versuche, deinen Fehlern, also dir selbst, ins Gesicht zu sehen" gehörte zu den wichtigsten Prinzipien des Unternehmers, die er selbst in seinem Buch "Die Otto-Gruppe" formulierte. Eines großen Wagemuts bedurfte es, als Otto im zerstörten Hamburg der Nachkriegszeit in ein Metier einstieg, von dem er nur sehr wenig Ahnung hatte: Aus dem Nichts baute er eine Schuhfabrik auf, in der ehemalige Werftarbeiter und Schlachter grobe Arbeitsschuhe, sogenannte Zweischnaller, zusammenschusterten.
Nach anfänglichen Erfolgen floppte das Geschäft, weil die Qualität nicht ausreichte. Doch anstatt aufzustecken, analysierte der Chef unsentimental seine Fehler und stürzte sich kurz darauf schon in das nächste Projekt: Zufällig war ihm ein Versandkatalog der Firma Baur auf den Schreibtisch geflattert - wieder einmal ging es um Schuhe. Wenn schon nicht als Fabrikant, so wollte der Unternehmer doch zumindest als Händler reüssieren. Er nahm die 6000 Mark, die er nach dem Zusammenbruch seiner Fabrik noch übrig hatte, und gründete am 17. August 1949 den Werner Otto Versandhandel.
Improvisationstalent und die Bereitschaft zu langer, harter Arbeit waren es, die der Chef von sich und seinen Mitarbeitern in den Anfangsjahren verlangte. Der Fuhrpark des Versands bestand aus einer zweirädrigen Ziehkarre, in der die ersten Pakete abends zur Post in Schnelsen gezogen wurden. Eingehende Pakete wurden aufgeknotet, Band und Packpapier geglättet, die Adressen abgekratzt und das Verpackungsmaterial wiederverwendet.
Der erste Katalog von "W. Otto", der im Jahr 1950 herauskam, wirkt heute fast rührend. Das gesamte Sortiment bestand aus 28 Paar Schuhen, das Otto auf 14 Seiten präsentiert - jedes Modell einzeln fotografiert und per Hand eingeklebt. Die Preise wurden mit Schreibmaschine daruntergeschrieben. Das ganze Werk wurde von Kordeln zusammengehalten - was den praktischen Nebeneffekt hatte, dass die Mitarbeiter Seiten herausnehmen konnten, wenn eines der Modelle nicht lieferbar war.
Schnell aber spiegelte die Auswahl des Katalogs die gestiegenen Wünsche der jungen Bundesrepublik wider. Schuhe waren bald passé, es folgten Hemden, Röcke, Schmuck und Spielzeug. Otto schaffte es, den Katalog in ein "Kaufhaus in der Tasche" zu verwandeln, wie es in der Biografie "Der Jahrhundert-Mann" heißt. Ein Werbetext aus jener Zeit: "Sehr oft kommt ein Otto-Versand-Paket ins Haus und mit strahlender Freude werden dann gerade jene anmutigen Gaben betrachtet, die die geheimen Wünsche jeder Frau erfüllen. Duftige, elegante Damenwäsche, praktische Garnituren und entzückende Nachthemden." Das Konzept ging auf: 1951 erwirtschaftete das Unternehmen die erste Umsatzmillion.
Dabei war Otto für seine Mitarbeiter nie ein einfacher Chef. Er selbst arbeitete in den Anfangsjahren schon mal 36 Stunden am Stück durch und verlangte von seinen Beschäftigten ebenfalls einen hohen Einsatz. Am Schreibtisch hielt es Otto nie lange ("Sitzen ist nichts für mich.") Der Manager bevorzugte ein Palisander-Stehpult als Arbeitsplatz, eines im Unternehmen und eines zu Hause, um auch dort stets an seinen Ideen arbeiten zu können. "Das einzige, was mich strapaziert, ist Passivität", sagte der Unternehmer von sich.
Trotz des hohen Einsatzes, den er von seinen Mitarbeitern und sich selbst forderte, wurde er zum Vorreiter sozialer Errungenschaften. Er richtete eine Werksküche ein, zahlte Weihnachtsgeld und führte im Juli 1956 als einer der ersten deutschen Unternehmer die Fünf-Tage-Woche ein.
Mitte der 60er-Jahre brach Otto einmal mehr zu neuen Ufern auf. Er zog sich von der Spitze des Otto-Versands zurück und stieg ins Immobiliengeschäft in den USA und in Kanada ein. Dort lernte er eine Form des Einkaufens kennen, die in Deutschland zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannt war: Shoppingcenter. Otto übertrug das Konzept der überdachten Konsumtempel in entschärfter Form auf die Bundesrepublik. Center wie das 1970 gegründete Alstertal-Einkaufszentrum wurden zur Keimzelle für den zweiten Otto-Konzern, die ECE, die sich mittlerweile zum größten Shoppingcenterbetreiber in Europa entwickelt hat.
Der Visionär und weitsichtige Unternehmer - das ist allerdings nur die eine Seite von Werner Otto. Die andere ist sein unermüdlicher Einsatz als Stifter und Mäzen. Er sei ein Mann mit "Pflichtgefühl für die res publica" gewesen, hat Helmut Schmidt über Otto gesagt. Besonders engagierte sich der fünffache Vater für Kinder. Schon 1969 gründete er die Werner-Otto-Stiftung, zu deren wichtigsten Projekten das wissenschaftliche Behandlungszentrum für Krebskrankheiten im Kindesalter am UKE zählt. Angeregt durch einen Bericht des Kinderarztes der Familie gründete der Unternehmer 1974 das Werner-Otto-Institut auf dem Gelände der Stiftung Alsterdorf - die erste Spezialeinrichtung Norddeutschlands, die sich ausschließlich der Früherkennung und Behandlung entwicklungsgestörter oder behinderter Kinder widmet.
Daneben setzte sich Werner Otto auch mit Millionenspenden für kulturelle Einrichtungen und den Erhalt historischer Baudenkmäler ein. In seiner alten Heimat ließ Otto seine im Zweiten Weltkrieg schwer zerstörte Taufkirche in Seelow wieder errichten. In Hamburg unterstützte er unter anderem die Neugestaltung des Jungfernstiegs.
Sich selbst hielt der Unternehmer vor allem mit einem gesunden Lebensstil und Wanderungen auch noch im hohen Alter fit. Nach einem leichten Herzinfarkt Mitte der 60er-Jahre krempelte Otto die eigene Ernährung um, gönnte sich allerdings täglich auch noch seine heiß geliebte Creme Caramel. "Mein Mann hatte das große Glück, gesund in einem harmonischen und liebevollen Familienumfeld alt zu werden", sagt seine dritte Frau Maren Otto, mit der er fast fünf Jahrzehnte verheiratet war.
Das unternehmerische und soziale Vermächtnis Werner Ottos wird nun vor allem von seinen beiden Söhnen Michael und Alexander weitergetragen. Michael Otto hat den Versandhandelskonzern Otto auf das Internetzeitalter ausgerichtet. Unter der Ägide von Alexander Otto ist der Einkaufscenterbetreiber ECE zur heutigen Größe aufgestiegen. "Werner Otto ist nicht nur eine der bedeutendsten Unternehmerpersönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern auch ein beeindruckendes Vorbild für viele Menschen - und ganz besonders für uns", sagen die Söhne über ihren Vater.
Lesen Sie ab morgen die dreiteilige Serie über das Leben und Wirken von Werner Otto