Massiver Fachkräftemangel bedroht von 2015 an den deutschen Wohlstand. DIW-Präsident Klaus F. Zimmermann im Abendblatt-Interview.
Hamburg. Klaus F. Zimmermann gehört in der Wirtschaftsforschung zu den renommierten Experten für den Arbeitsmarkt, die Migration und Konjunktur. Der Volkswirtschaftsprofessor ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sowie Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA). Das Abendblatt sprach mit dem 57-Jährigen über die Zeitenwende am Arbeitsmarkt, notwendige Zuwanderung sowie Fehlprognosen der Ökonomen.
Hamburger Abendblatt:
Alle Ökonomen haben ihre Prognosen für Deutschland erhöht. Auch Ihr Institut - von 1,9 auf mittlerweile 3,0 Prozent Wachstum für das laufende Jahr. Was stimmt Sie so optimistisch?
Klaus F. Zimmermann:
Die deutsche Wirtschaft hat sich deutlich erholt, die Exporte sind infolge der weltwirtschaftlichen Erholung kräftig gestiegen. Angesichts des Zuwachses im ersten Halbjahr ist es schon rein rechnerisch kaum mehr möglich, unter drei Prozent zu wachsen. Der Schwung hält auch 2011 an, nimmt aber an Stärke ab.
Wirtschaftsforscher lagen in den vergangenen Jahren mit ihren Prognosen oft deutlich daneben. Selbst die größte Finanzmarktkrise wurde von niemandem präzise vorausgesagt. Wie sicher sind Sie, dass Sie diesmal nicht irren?
Zimmermann:
Außergewöhnliche Ereignisse sind schwer voraussagbar. Und wer sie prognostiziert, hat meist nur zufällig recht. Hier geht es uns wie Erdbebenforschern. Auch sie wissen nur, es kommt, aber nicht wann.
Die wissenschaftlichen Instrumente reichen nicht für genaue Prognosen?
Zimmermann:
Als Wissenschaftler vertrauen wir auf systematische Zusammenhänge, die sich immer wiederholen. Geschieht dies nicht, wie bei starken Krisen, ist keine sichere Aussage mehr möglich. Werden in solchen Phasen dennoch Prognosen erstellt, so handelt es sich bestenfalls um gehobene Unterhaltung oder Kaffeesatzleserei, aber nicht um Wissenschaft.
Ist die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise bereits überwunden?
Zimmermann:
Nein, das dauert noch einige Jahre. Deutschlands Wirtschaft wird 2011 wieder so stark sein wie vor der Krise. Allerdings erwarte ich auch keinen Double-Dip, etwa einen erneuten Rückfall der USA in die Rezession.
Wo lauern die größten Gefahren?
Zimmermann:
Ein Risiko geht von China aus. Noch ist China Weltmotor für die Wirtschaft, doch dies wird nicht so bleiben. Zudem könnte es zu einem Zusammenbruch des dortigen Immobilienmarktes kommen. In den USA gibt es Ängste vor einer Rezession. Aber das größte Risiko geht unverändert vom Finanzmarkt aus, der immer noch zu wenig reguliert wird.
Was müssten die Regierungen ändern?
Zimmermann:
Nach den USA müssten auch die Europäer eine Aufsichtsbehörde für Geldinstitute schaffen. Produkte müssten künftig bezüglich ihrer Risiken zertifiziert werden. Zudem muss das Eigenkapital der Banken erhöht werden.
Die Krise hat die Staaten viel Geld gekostet. Bekommen wir mittelfristig hohe Inflationsraten?
Zimmermann:
Angesichts der niedrigen Zinsen und des hohen Geldumlaufs besteht grundsätzlich ein Inflationsrisiko. Gelingt es der EZB, das Geld dem Markt geregelt zu entziehen, sehe ich nur eine mäßige Inflation. Für den Euro-Raum erwarte ich 2012 eine Inflation von drei Prozent.
Ist Griechenland trotz der hohen Schulden noch zu retten?
Zimmermann:
Die Griechen können sich nicht selbst retten. Ich hätte eine geregelte Insolvenz des Staates für die beste Lösung gehalten, bei der die Investoren mit zur Kasse gebeten werden. Stattdessen wurde der Maastricht-Vertrag ausgehebelt und die Gelder der Banken, die in dem Land investiert wurden, waren gerettet. Ein Austritt eines Landes aus der Euro-Zone wäre allerdings der Anfang vom Ende Europas.
Die IG Metall verlangt für die Stahlbranche sechs Prozent mehr Lohn. Ist diese Forderung angemessen?
Zimmermann:
Die Forderung ist ein schlechtes Signal für die Gesamtwirtschaft. Ich halte maximal ein Niveau von zwei bis drei Prozent für vertretbar. Branchen mit höheren Gewinnen sollten ihre Mitarbeiter mit Einmalzahlungen an ihrem Erfolg beteiligen. Gerade die Lohnzurückhaltung hat der deutschen Wirtschaft geholfen, die Krise besser zu bestehen und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.
Deutschland gehen durch die Überalterung die Arbeitskräfte aus. Wann droht ein erster drastischer Einbruch?
Zimmermann:
Von 2015 an verlieren wir jedes Jahr rund 250 000 Mitarbeiter. Dann fehlen bereits drei Millionen Arbeitskräfte am Markt - insbesondere Fachkräfte. Zugleich werden die Arbeitenden immer älter, und der Anteil wenig Qualifizierter nimmt zu.
Welche Folgen hat der Bevölkerungsrückgang für die Wirtschaftskraft?
Zimmermann:
Das Bruttoinlandsprodukt sinkt. Der Wohlstand nimmt ab, insbesondere in einwohnerschwächeren Gebieten wie Mecklenburg-Vorpommern. Unsere sozialen Sicherungssysteme wie Renten müssen von immer weniger Arbeitenden finanziert werden, was uns vor immense Finanzprobleme stellt. Es bedeutet, dass die Lebensarbeitszeit verlängert werden muss - auf rund 70 Jahre. Und selbst das wird nicht ausreichen. Wir brauchen dringend Arbeitskräfte und Zuwanderer aus dem Ausland - und zwar mindestens netto 500 000 mehr Menschen pro Jahr, um unsere Wirtschaftskraft dauerhaft zu sichern.
Deutschland gilt derzeit aber nicht gerade als Magnet für Fachkräfte aus dem Ausland. Was muss sich an der Einwanderungspolitik ändern?
Zimmermann:
Deutschland muss international offensiv signalisieren, dass Fachkräfte aus dem Ausland hierzulande stark erwünscht sind. Die Einwanderung sollte künftig einerseits arbeitsmarktorientiert auf den kurzfristigen Bedarf abgestimmt werden: Wer einen Job hat, darf bis zu fünf Jahre kommen. Andererseits brauchen wir ein Punktesystem für dauerhafte Zuwanderung, wie es beispielsweise Australien oder Kanada praktizieren, bei dem es vor allem auf die Ausbildung ankommt.
Haben wir in den vergangenen Jahren die falschen Zuwanderer geholt?
Zimmermann:
Ja, wir haben die Zuwanderung bisher nicht über den Arbeitsmarkt gelenkt. Hinzu kommt, dass uns die Integration von Migranten in den deutschen Arbeitsmarkt nicht ideal geglückt ist. Insbesondere die zweite und dritte Generation der Migranten sucht in ähnlichen Bereichen Arbeit wie ihre Eltern, doch diese Berufe sind heute nicht mehr gleichermaßen gefragt.
Inwieweit ist die von Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin losgetretene Debatte förderlich?
Zimmermann:
Die Versäumnisse in der Migrationspolitik, die Sarrazin beschreibt, haben bereits viele Experten vor ihm beschrieben. Seine Schlussfolgerung ist aber aus meiner Sicht falsch. Es handelt sich nicht um ein Problem der Religion, sondern eher um eines der Bildung und Herkunft. Die Türkei ist groß. Nach Deutschland kamen vor allem Einwanderer vom Land, während besser gebildete Türken aus Istanbul vor allem in die USA auswandern. Kämen die Istanbuler nach Deutschland, wäre sicher auch Herr Sarrazin erfreut. Ich teile die Analyse von Sarrazin, dass wir ein Problem haben, und wer das Gegenteil behauptet, ist ein Ignorant. Mein Fazit lautet aber anders: Die Situation wird erst besser, wenn wir die Grenzen zur Türkei öffnen und das Land in die EU aufnehmen. Sicher müssen wir auch die Migranten zu mehr Weiterbildung und Eingliederung auffordern, aber auch wir müssen mehr anbieten, damit die Integration gelingt.
Können Sie verstehen, dass man Sarrazin als Vorstand ablösen will?
Zimmermann:
Ich kann verstehen, dass eine Institution wie die Bundesbank, deren Arbeit auf feine Zurückhaltung basiert, mit gesellschaftspolitischen Akteuren in ihren Reihen Schwierigkeiten hat. Umgekehrt nutzt Herr Sarrazin nur sein Recht auf freie Meinungsäußerung. Sarrazin äußert sich oft überspitzt, aber er ist kein Rassist.