Aufgebrachte Stimmung vor dem Gericht. Der Angeklagte muss wohl nicht ins Gefängnis.
Braunschweig. Gestern Morgen, 9.50 Uhr vor dem Braunschweiger Landgericht. Dutzende Protestierende halten Plakate in die Höhe, sie haben "Gegen Arbeitszwang und Lohndumping" auf Leinwände und Pappe geschrieben und "Weg mit den 1-Euro-Jobs". Eine Frau in einem Pulk Demonstranten mit roten Kapuzenpullis und weißen Masken spricht ins Megafon: "Hartz hat erhebliche Mitschuld an sozialer Entmachtung und Verarmung." Jemand hat auf ein Brett gemalt: "Wo sind die Nutten?". Wolfgang Kraemer (51), alleinerziehender Vater und Hartz-IV-Empfänger aus Braunschweig ist besonders wütend: "Hartz steht für die große sozialpolitische Katastrophe, für Armut", ruft der Mann im blauen Parka, "wenn die Kleinen mal beim Sozialbetrug erwischt werden, haben sie sofort ein Ermittlungsverfahren am Hals, aber hier der Vogel kommt mit Peanuts weg."
Dann rollt mitten im Gewoge zwischen aufgebrachten Bürgern und Dutzenden Journalisten eine schwarze Limousine vor. Peter Hartz steigt aus und die Menschen rufen dem Ex-Personalchef von VW und Namensgeber der von ihnen so verhassten Sozialreformen böse Worte zu, "Du Schwein", "Verbrecher", "Arbeiterverräter". Er drängt sich vorbei am Schild eines Protestierenden, "Wasser predigen, Wein trinken", betritt das Gerichtsgebäude, die Fotografen hängen über der Balustrade, drängen sich um den Angeklagten, der ringt sich ein Lächeln ab und läuft die Treppe herauf zum Saal 141.
Dort empfängt ihn ein recht frauenlastiges Gericht, denn sieben der acht Menschen in den Roben sind weiblich, ein wohl eher ungewohntes Bild für Hartz, der Zeit seines Berufslebens in männerdominierten Branchen wie der Stahl- und der Autoindustrie zu Hause war. Zunächst muss der Angeklagte zur eigenen Person aussagen, mit etwas unsicherer Stimme präsentiert er einen knappen Lebenslauf, verweilt kurz auf der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Uni Trier und den Professor ehrenhalber, den er von der saarländischen Regierung bekam. Und er legt, das ist später für die Berechnung der Geldauflagen wichtig, seine Einkommensverhältnisse offen. Derzeit bekomme er monatlich 25 000 Euro netto - unter anderem betätigt er sich gerade als Unternehmensberater und Autor. Den Großteil davon zahlt aber vermutlich VW als Betriebsrente. Dazu kommen 2,7 Millionen Euro Vermögen auf der hohen Kante.
Dann wird es ernst. Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff verliest die 44 Fälle, in denen Hartz der Untreue angeklagt ist. Er soll den Ex-Betriebsratschef Klaus Volkert und seine brasilianische Geliebte Adryanna Barros "wohlwollend und nicht kleinlich" behandelt haben, so hat Hartz den "Betriebsratsanimateur" Klaus-Joachim Gebauer angewiesen. Hartz' Anwalt würde später auch noch genau erklären, warum VW dabei etliche Flüge von Adryanna von São Paolo nach Frankfurt, Hannover, Lissabon, Dubrovnik oder von Frankfurt nach Casablanca oder Mexiko zahlte, weiterhin Rechnungen für ebenfalls dem Unternehmenszweck kaum dienliche Dinge wie Maßanzüge oder Schmuck. Die Flüge sollten gewährleisten, dass Adryanna Barros auf Firmenkosten immer dort war, wo sich Volkert gerade auf internationalen Treffen der Betriebsräte, Erkundungsreisen für Investitionsentscheidungen im Ausland oder den sogenannten VW-Weltreisen aufhielt, die stets der Investitionsplanung bei dem Autobauer vorausgingen.
Hartz lässt sein Geständnis vorlesen. Letztlich, so sein Anwalt Egon Müller, einer der renommiertesten Strafverteidiger der Republik, wollte der Ex-Personalchef Volkert damit "im Boot haben und ihn nicht trotzig, ablehnend oder anderweitig störend machen". Grundlage all dieser Verabredungen zwischen Hartz und Volkert, die, wie der Zeuge Herr Hoffmann aus dem Personalwesen ausführte, als teilweise "streng vertraulich" galten, war eine enge Vertrauensbasis zwischen Volkert und Hartz, sagt Müller. "Beide Herren verstanden sich wortlos", führt der Jurist weiter aus. "Mimik und Gestik" hätten im Vordergrund der Kommunikation zwischen beiden Männern gestanden, die seit Jahrzehnten auch als engagierte IG-Metall-Mitglieder miteinander verbunden waren.
Es herrschte "wechselseitiges Vertrauen, gegenseitige Akzeptanz, ein Schulterschluss, der letztlich zum Verzicht auf wechselseitige Kontrolle geführt hat". Volkert habe sich als "sympathischer", für die Unternehmensinteressen engagierter Mann gezeigt, und gemeinsame Entscheidungen wie zum Beispiel die zur Vier-Tage-Woche hätten die beiden Männer zusammengeschweißt. Daraus habe sich eine "Vertrauensposition ergeben, wenn Sie so wollen Vertrauensseligkeit, die ihre Nachteile, wie wir sehen werden, hatte", sagte Müller, wie Hartz ein Saarländer, der dem studierten Betriebswirt ebenfalls seit Jahren eng verbunden ist.
Die Kontrollinstanzen hätten jedenfalls "erkennbar gefehlt, so dass mein Mandant sich in vielen Entscheidungssituationen falsch orientierte und verstrickte", rückte er den ehemaligen Berater von Ex-Kanzler Gerhard Schröder in die Nähe der Naivität. Und so habe er "ohne Absprache mit dem übrigen Vorstand" - hier wird VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch erleichtert aufatmen - "den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden begünstigt", ausgelöst durch die "fordernde Haltung" Volkerts und erleichtert durch die Duz-Ebene der beiden Männer.
Sicher, gab Müller zu bedenken, habe Hartz etwas "wolkige Gedanken" dabei gehabt, als er für Volkerts Geliebte einen Agenturvertrag bewilligte, er habe ahnen können, dass der Vertrag eine Beschäftigung nur vorspiegelte. Hartz holt tief Luft, als sein Anwalt diese Wahrheit ausspricht.
Mit leisem Gelächter quittieren später die durch die bereits sechsstündige Verhandlung etwas ermatteten Zuschauer die verlesene Aussage Volkerts, dass Barros auf Grundlage dieses Papiers, für "Soziales, Interkulturelles und einiges mehr" zuständig war. Dass sie aus diesem Vertrag am Ende viel Geld kassieren würde, findet dann allerdings niemand mehr komisch.
Kurz nach vier Uhr, Hartz verbirgt nur noch schwer seine Gähnattacken, die Zuschauer gönnen sich vor dem Gerichtssaal immer häufiger ein Brötchen, ist dann auch für das Gericht Zeit, sich zu vertagen. Mit dem Schlusswort verabschiedet sich die Vorsitzende Richterin bis zum 25. Januar, dem zweiten und letzten Verhandlungstag für den ersten Prozess in der VW-Affäre. Dann wird Hartz, so deutet sich an diesem Tag an, mit einer Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von etwa 300 000 Euro zu rechnen haben. Für einen Mann mit seinem Vermögen wohl tatsächlich Peanuts. Die aufgebrachte Menge vor dem Gericht wird diese Nachricht nicht besänftigen.