Was machen Jugendliche, wenn sie Hip-Hop lieben, aber taub sind? Wenn sie nach der Musik von Rihanna und 50 Cent tanzen wollen? Ganz einfach: Sie drehen die Musik voll auf, fühlen die Töne durch ihren Körper.
Auf den ersten Blick scheint alles ganz normal: Freitagmorgen in einer Hamburger Schule, ein Auftritt in der Aula. Der Raum ist gut gefüllt, Schüler sitzen auf harten Holzstühlen, einige schauen noch etwas verschlafen, andere toben miteinander. Sie warten.
Musik ertönt. Hip-Hop, kräftige Beats, dröhnender Bass. So wie es sich für einen "Dance-Act" gehört.
Es geht los.
Und plötzlich verstummt die Anlage wieder. Ein Kabel ist aus der Box gerutscht. Doch hier stört sich niemand daran, keine Buhrufe, kein Pfeifen.
Zweiter Versuch. Hip-Hop-Stars wie 50 Cent, Chris Brown und Rihanna tönen aus den Lautsprechern. Dann springen sie auf die Bühne: sechs Mädchen im Teenageralter, graue, weite Jogginghosen und rote Kapuzenpullis. Hip-Hop ist ihre Musik und ihr Tanzstil, sie bewegen sich im Takt, wippen und drehen sich, gehen in die Hocke und schnellen wieder in die Höhe. Dabei fühlen sie sich so cool wie ihre Vorbilder aus den Musikvideos. Ihre Blicke haften an einer blonden Frau, die ihnen vortanzt. Die Musik ist sehr laut. Niemanden stört das.
Nach den ersten getanzten Takten stürzen vier andere Mädchen auf die Bühne. Sie sind deutlich jünger und werden ebenfalls von einer jungen Frau begleitet. Jede in der Gruppe hat ihre Aufgabe, alle Mädchen konzentrieren sich auf ihre Bewegungen. Nicht immer synchron, vielleicht nicht immer elegant, dafür sieht man ihren Gesichtern die Freude an.
Wenige Minuten später ist der Auftritt vorbei. Das junge Publikum applaudiert begeistert. Der Auftritt hat ihnen gefallen.
Also alles ganz normal?
Irgendwie schon. Nur, dass die tanzenden Mädchen und ihr Publikum die Musik nicht hören, sondern fühlen.
Sie sitzt den ganzen Tag auf ihrer
Fensterbank
Lässt ihre Beine baumeln zu Musik
Der Lärm aus ihrem Zimmer macht alle
Nachbarn krank
Sie ist beseelt, lächelt vergnügt
Sie weiß nicht, dass der Schnee lautlos
auf die Erde fällt
Merkt nichts vom Klopfen an der
Wand*
Rückblick. Zwei Wochen zuvor. Ein verregneter Sonntagnachmittag in Niendorf. Im Fitnessstudio Adyton des Niendorfer Turn- und Sportvereins (NTSV) am Sachsenweg ist heute nicht viel los. Nur wenige Mitglieder trainieren an den Geräten. Sonntags finden nur drei regelmäßige Kurse statt: ein orthopädisches Training an den Geräten, Aerobic und "Bauch-Beine-Po". Typische Vereinskurse.
Ein weiteres Angebot ist allerdings nicht typisch. Im Gegenteil, das Angebot mit der Nummer "HHG2" ist einzigartig in ganz Deutschland: Ein Hip-Hop-Workshop für gehörlose und schwerhörige Kinder. Ein Kurs, in dem nicht gesprochen und dennoch viel gesagt wird. Es ist ein Kurs, in dem die Kinder geräuschlos sprechen, mit den Lippen, den Augen, den Armen und Beinen. Sie sprechen mit dem ganzen Körper. Die Musik können sie nicht mit ihren Ohren hören. Sie fühlen sie. Mit dem ganzen Körper.
Wie das geht? Ganz gut.
Das weiß Jessica Benthien am besten. Sie hat blonde Haare, eine durchtrainierte Figur, ein freundliches Jungmädchen-Lächeln und ist eine patente Frau. Sie hat den Workshop für gehörlose Kinder ausgearbeitet. Am Ende des gerade laufenden Kurses soll es sogar einen Auftritt in der Schule für Hörgeschädigte an der Hammerstraße in Wandsbek geben. In zwei Wochen wird es so weit sein. "Die Mädchen brauchen dieses kleine Ziel, dieses Erfolgserlebnis, vor anderen aufzutreten. Dafür üben sie gern und fleißig", sagt die 27-Jährige. Seit sieben Jahren veranstaltet die Mathe- und Englisch-Studentin Sport- und Tanzunterricht für Kinder, besonders Hip-Hop.
Eines Tages kamen zwei gehörlose Mädchen in ihren Kurs. "Die beiden Freundinnen hatten all ihren Mut zusammengenommen, weil sie gern Hip-Hop tanzen wollten. Ich war fasziniert! Und verwirrt zugleich, weil ich sie natürlich einerseits einbeziehen wollte, aber andererseits nicht wusste, wie ich mich verständigen soll." Schnell war klar: Das sind Mädchen, die genau wie hörende davon träumen, eine berühmte Tänzerin
zu werden und ihren Stars nacheifern. Nach einem Gespräch mit den Eltern der beiden entschließt sich Benthien dazu, für die gehörlosen Kinder einfach einen neuen Kurs anzubieten - mit einer eigenen Gebärden-Dolmetscherin.
Das ist jetzt etwa ein Jahr her. Mittlerweile hat Jessica Benthien die Angst, sich nicht verständigen zu können, abgelegt. "Ich habe einen kleinen Crashkurs in Gebärdensprache gemacht. Für 'komm her!' oder 'schneller', 'alle gemeinsam' und die Zahlen reicht es. Meistens mache ich einfach Handbewegungen, zeige etwas oder tanze vor. Die Kinder verstehen", sagt sie. "Die Arbeit mit den gehörlosen Kindern ist eine tolle Erfahrung für mich. Dass sie Spaß am Tanzen und am Fühlen der Musik haben, ist für mich die Hauptsache."
Der Mann ihrer Träume muss ein
Bassmann sein
Das Kitzeln im Bauch macht sie
verrückt
Ihr Mund scheint vor lauter Glück still
zu schrein
Ihr Blick ist der Welt entrückt
Ihre Hände wissen nicht, mit wem sie
reden soll'n
Es ist niemand da, der mit ihr spricht
Benthien wartet im Adyton auf ihre Teilnehmerinnen. Sie ist eine, die nicht lange nachdenkt, sondern anpackt, einfach macht, beibringt. Ihre Haltung sagt: O.k., die Kinder sind gehörlos, na und? Das heißt nicht, dass sie nicht tanzen können!
Heute hat sie es mit einer kleinen Gruppe zu tun: Es kommen Elaine, Rebecca (beide 12) und Elisabeth (13) sowie die Zwillingsschwestern Antonia und Prisca (8) und deren beste Freundin Adelina (7). Einen "Welpenschutz" aufgrund der Gehörlosigkeit bekommt hier niemand.
Will auch niemand. Das Training beginnt. Nina Popp, eine Heilerzieherin von der Schule für Hörgeschädigte, die die Gebärdensprache beherrscht, unterstützt Benthien beim Training. Sie kümmert sich heute um die kleinen, die erst einmal ausdiskutieren wollen, wer mit wem in einer Zweiergruppe tanzt - da sie nur zu dritt sind, muss sich eine mit der Lehrerin begnügen.
"Jetzt probieren wir als erstes die Choreos aus!", ruft Benthien - und meint die Choreografie. Elaine, die sehr gut Lippen lesen kann, übersetzt die Anweisung der Trainerin mit den Händen. Alle Mädchen gehen in Position. Nina Popp versucht die kleinen Mädchen unter Kontrolle zu bringen. Die toben zwischendurch lieber, als synchron zu tanzen.
Jessica Benthien legt eine CD ein. Dreht die Anlage voll auf. Es ertönen 50 Cent, Rihanna und Missy Elliot. Der Boden der Turnhalle vibriert leicht. Die Lautstärke ist unangenehm, zumindest für einen hörenden Menschen. Die älteren Mädchen orientieren sich an Benthien, zählen die Schritte, beobachten ihre Bewegungen, ahmen sie nach. Manchmal schließen sie ihre Augen für einen kurzen Moment. Sobald sie aus dem Takt kommen, was hin und wieder passiert, schaltet Benthien die Musik aus und fängt noch einmal von vorne an. Sie gibt den Takt vor, zählt. In Gebärdensprache. Die Choreografie wird noch einmal durchgeprobt. Geschafft! Einmal fast fehlerfrei durchgetanzt! Zumindest die älteren Mädchen. Dann gibt es erst einmal eine Pause. Elaine, die wie die anderen Tänzerinnen seit ihrer Geburt gehörlos ist, versucht zu erklären, wie sie Musik wahrnimmt. Und das ist gar nicht so einfach. "Manchmal fühlt es sich weit weg an, dann wieder näher", gibt sie zu verstehen und streicht sich, wie zur Unterstützung ihrer Aussage, in kreisenden Bewegungen über den Bauch. "Musik - das ist ein schönes Gefühl!" Ihr großes Idol ist Missy Elliot. Wie Elaine und ihre Freundinnen ist sie eine Pionierin auf ihrem Gebiet: Sie musste sich gegen Widrigkeiten in der von Männern dominierten amerikanischen Hip-Hop-Szene durchsetzen, um dann eine der ersten weiblichen Superstars im Rap zu werden. Ob Elaine wegen des Auftritts aufgeregt ist? "Es geht. Nö, eigentlich nicht. Na ja, vielleicht ein bisschen", sagt sie. Entscheidungsfreudig sind Teenager nicht - ob hörend oder gehörlos.
Jessica Benthien dagegen merkt man die Aufregung an. Es ist schließlich ihr Projekt, es sind ihre Schützlinge. Die Kinder sind ihr ans Herz gewachsen, die Arbeit macht ihr Freude. Sie fühlt Verantwortung. Ein weiterer Workshop ist in Planung. Der soll dann allerdings in der Schule für Hörgeschädigte stattfinden. "Dort gibt es Räume, die akustisch so beschaffen sind, dass man die Musik noch besser fühlen kann", sagt sie. Denn wer nicht hören kann, muss eben fühlen.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist
Das ist alles, was sie hört
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist
Wenn sie ihr in den Magen fährt
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist
Wenn der Boden unter den Füßen bebt
Dann vergisst sie, dass sie taub ist
Benthien drückt den Startknopf der Musikanlage. Der Boden vibriert.
* Text aus "Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist" von Herbert Grönemeyer