Für die Mieter ist es ein Zufluchtsort in einer Welt, die sie oft zur Sprachlosigkeit verdammt. Hier spielt für sie die Musik - so laut, bis jeder sie spüren kann, weil der Boden vibriert.
Am Nachmittag erwacht das Haus zum Leben. Eine Tür wird zugeschlagen, Schritte poltern auf der Treppe, und von draußen dringt der Schrei eines Kindes herein. Doch Jutta von Homeyer hört in ihrer Wohnung im zweiten Stock weder die vorbeifahrenden Autos auf der Straße noch den Lärm im Haus. Sie hört nicht, wie die Haustür ins Schloss fällt und der Briefkasten klappert. Sie hört nicht, wie jemand über den Flur schlurft und an ihrer Haustür klingelt. Aber sie sieht, wie die Lampe über dem Eingang angeht. Aus, an, aus, an. Als Zeichen, dass jemand vor der Tür steht - auch wenn Jutta von Homeyer ihn nicht hören kann. Weil sie gehörlos ist. So wie ihr Nachbar, so wie fast alle Mieter hier im Haus an der Bernadottestraße 126.
Nach außen hin ist es ein ganz normales Mietshaus in Othmarschen. Mit Fahrrädern im Flur, Bekanntmachungen am schwarzen Brett, 20 Wohnungen. Und doch ist alles ein bisschen anders. Die Haustürklingeln lösen statt eines Geräusches ein Lichtsignal aus. Die Telefone läuten nicht, sondern blinken. Und die Wohnungen werden ausschließlich an gehörlose oder schwerhörige Menschen vermietet.
Die Menschen leben in der Stille. Doch das Haus ist niemals still. Türen knallen, Wasserleitungen rauschen, Fernseher laufen. Ohne, dass es jemand stört. Ohne, dass es jemand hört. "Das ist aber kein Behindertenheim", sagt Hans-Jürgen Kleefeldt (54), Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen, die das Haus 1968 gebaut hat - als bundesweit einmalige Einrichtung, die bis heute Vorbildcharakter hat. Am Sonnabend, dem Tag der Gehörlosen in Hamburg, wird das 40-jährige Bestehen gefeiert. Offiziell ist es "Kultur- und Freizeitzentrum für Gehörlose". Doch für die Betroffenen ist es viel mehr. Eine Zufluchtsstätte in einer Welt der Einsamkeit, in der Gehörlose Außenseiter sind. Ein Ort der Kommunikation in einer Welt der Stille, in der sich Gehörlose kaum verständigen können.
Jutta von Homeyer wohnt seit mehr als 35 Jahren in ihrer Wohnung. Ein Zimmer, Küche, Bad. 24 Quadratmeter Heimat. Ans Wegziehen hat sie nie gedacht. "Hier will ich bleiben, bis ich sterbe", erzählt sie in Gebärdensprache. Auch wenn das hoffentlich noch dauert, sagt sie und hält sechs Finger in die Luft. Zweimal. 66. So alt ist sie. "Wie in dem Lied von Udo Jürgens", sagt Herr Kleefeldt. Doch davon will Jutta von Homeyer nichts wissen. In ihrer Welt der Lautlosigkeit gibt es keine Musik, keine Melodien. "Stopp!", ruft sie in einer Sprache, die sie selbst nicht hören kann, und macht mit den Händen eine abwehrende Geste. Über Musik will sie nicht sprechen.
Aber Sami will. Sami Ulrich, der zwei Türen rechts von Jutta von Homeyer wohnt. Eingerichtet mit Computer, Bildtelefon, Flachbildschirm - und einer Musikanlage. Manchmal, wenn er von der Arbeit in einer Salatfabrik nach Hause kommt, dreht er den Ton so laut auf, bis der Boden vibriert. Wie in diesem Lied von Herbert Grönemeyer. Darin heißt es: "Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Wenn sie ihr in den Magen fährt ...Wenn der Boden unter den Füßen bebt. Dann vergisst sie, dass sie taub ist."
Sami Ulrich (52) kennt das Lied nur aus Erzählungen. Selbst hören kann er es nicht. Obwohl er nicht taub ist, sondern "nur" schwerhörig, wie er stolz sagt. Die Worte aus seinem Mund sind verzerrt, weil er die Sprache selbst nie richtig hören konnte. Weil er seit seiner Geburt fast taub ist. Deswegen unterstreicht er alles, was er sagt, mit Gebärden. Wie er im Sommer 1976 eingezogen ist. Weil er sich hier ohne Probleme mit anderen unterhalten kann. Ohne dass die anderen die Nase rümpfen, weil sie seine Lautsprache nicht verstehen können. Ohne dass die anderen ihn wie einen Behinderten behandeln, weil er schwerhörig ist. Ohne dass er ein Außenseiter ist.
Denn hier im Haus der Gehörlosen sind alle gleich. Sie haben alle die gleichen Probleme, sich in der Welt der Hörenden zu verständigen. Sie leben alle in einer Welt der Lautlosigkeit, in der es kein Jenseits der Stille gibt. Nur Einsamkeit. Isolation.
Doch hier im Haus, sagt Sami Ulrich, werden die Gehörlosen zu Hörenden, die Sprachlosen zu Sprechenden. Hier können sie sich mit den Nachbarn unterhalten. Hier können sie merken, wenn jemand vor der Wohnungstür steht und klingelt. Hier können sie die Musik aufdrehen, bis der Boden vibriert. Hier ist ihr Zuhause. Für die meisten Bewohner ist es mehr als ein Mietshaus, mehr als ein Wohnsitz im Personalausweis. Für sie ist es ein Ort der Kommunikation in einer Welt, die sie zu oft zu Sprachlosigkeit verdammt. Ein Ort der Gemeinschaft in einer Welt, in der sie Ausgeschlossene sind.
Hier sind sie mehr als Mieter, mehr als Nachbarn. Sie sind Freunde, Vertraute. In ihrer Freizeit treffen sie sich im Kultur- und Freizeitzentrum, das dem Haus angeschlossen ist. Sie besuchen Aufführungen auf der hauseigenen Theaterbühne oder gehen im Keller zusammen kegeln. Sie verabreden sich im Klubheim des Hauses und treffen sich zu Veranstaltungen, die eine der angeschlossenen Institutionen veranstaltet - vom Gehörlosenverband und dem Gehörlosen-Bund über die Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen bis hin zum Gehörlosen-Sportverein.
Im ersten Stock, direkt über dem Gehörlosenverband, liegt die Wohnung von Annelie Hoppe (65) und Hans-Jürgen Kley (74). Sie lebt seit 15 Jahren hier, er ist vor fünf Jahren zu ihr gezogen - nachdem sich die beiden in einem Kleingartenverein kennengelernt haben. "Wir verstehen uns einfach gut", sagt Annelie Hoppe. Weil sie dieselbe Sprache sprechen. "Wenn ich mich in Gebärdensprache unterhalten kann, bin ich glücklich", erzählt Annelie Hoppe mit Händen, die niemals ruhen. Sie tanzen durch die Luft wie Blätter im Wind, flattern umher wie ein Vogel im Käfig. Nur wenn sich Annelie und Hans-Jürgen auf das orangefarbene Sofa setzen und den Fernseher anschalten, haben die Hände Pause. Dann schweigt Annelie - so wie der Ton des Fernsehers, der immer abgestellt ist. Annelie und Hans-Jürgen leben in einer Welt der Bilder und Zeichen. Wenn sie die Nachrichten gucken wollen, müssen sie eine Sendung mit Gebärdensprache-Dolmetscher einschalten. Wenn sie einen Spielfilm sehen möchten, müssen sie einen mit Untertitel nehmen. Doch die gebe es viel zu selten, sagt Annelie. Dann zuckt sie mit den Schultern. So ist das eben. Sie hat gelernt, damit zu leben. Seit ihrer Kindheit ist Annelie Hoppe gehörlos. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat sie sich nur mit den Händen verständigen können, nur mit Gleichgesinnten kommunizieren können. Doch jetzt ist das anders. Jetzt hat Annelie Hoppe ein Fax und kann sich darüber verständigen. Mit Hörenden. Mit der Welt außerhalb des Hauses.
Am Abend wird es ruhiger an der Bernadottestraße 126. Das Klubhaus ist leer, die Mieter sind in ihren Wohnungen. Nur Jutta von Homeyer nicht. Sie ist nicht gerne allein. Sie hasst die Einsamkeit. Die Wände in ihrer Wohnung sind kahl. Es gibt keine Bilder an den Wänden, keine Fotos, kaum persönliche Gegenstände. Nur eine Aldi-Tüte an der Türklinke. Jutta von Homeyer ist nicht oft in ihrer Wohnung. Sie streift lieber durch das Haus und guckt, ob es irgendwo etwas zu tun gibt. Ob sie irgendjemandem helfen kann. Sie braucht die Beschäftigung, sagt sie. Sie ist die gute Fee des Hauses, sagt Sami Ulrich. Für einen Augenblick durchbrechen die Worte aus seinem Mund die abendliche Stille. Doch niemand kann es hören.