Seyne-les-Alpes/Berlin/Hamburg. Keine Erkenntnisse über Depression oder Sehschwäche. Airbus-Chef Enders spricht von “Fantasie-Berichten“. Gerichtsmediziner Tsokos: Identifikation dauert.
Der Absturz der Germanwings-Maschine 4U 9525 gibt neue Rätsel auf. Zwar konzentrieren sich die Ermittlungen weiter auf den Co-Piloten Andreas L., die Suche nach dem Flugdatenschreiber – und es geht um die Verarbeitung dieses einschneidenden Unglücks der deutschen Luftfahrtgeschichte. Aber die Deutsche Lufthansa weiß nach eigenen Angaben nichts von einer angeblichen psychischen oder anderen Erkrankung des Co-Piloten, der die Germanwings-Maschine in Südfrankreich zum Absturz gebracht haben soll. „Wir haben da keine eigenen Erkenntnisse“, sagte ein Firmensprecher auf die Frage, ob das Unternehmen als Muttergesellschaft von Germanwings von angeblichen schweren Depressionen des 27-jährigen Co-Piloten der Unglücksmaschine wusste. Weder sei das Unternehmen von Psychiatern oder Psychologen informiert worden, die einer Schweigepflicht unterlägen, noch von dem Mann selbst. „Deswegen war uns das nicht bekannt“, sagte der Sprecher.
Auch von Augenproblemen, über die mehrere Zeitungen berichteten, wisse die Lufthansa nichts. „Nein, das kann ich nicht bestätigen“, sagte der Sprecher. Grundsätzlich werde die Seefähigkeit beim jährlichen Medizintest der Piloten geprüft. Wenn dabei festgestellt werde, dass die Sehkraft nicht mehr ausreiche, könnte das zur Aberkennung der Flugtauglichkeit führen. Bei dem Germanwings-Piloten sei aber offenbar beim letzten Check nichts festgestellt worden, sonst hätte er den Flugtauglichkeitsvermerk nicht bekommen, sagte der Sprecher.
Keine Kenntnis hatte die Lufthansa darüber hinaus von einem etwaigen massiven Medikamenten-Gebrauch des Mannes. Generell müssten die Betreffenden Informationen dazu beim turnusmäßigen Medizin-Check angeben.
Am Absturzort liegen Trümmerteile und die sterblichen Überreste der toten Insassen in einem unzugänglichen Gelände, das sich über mehrere Hektar erstreckt. Die Identifizierung der Opfer könnte nach Einschätzung des Rechtsmediziners Michael Tsokos von der Berliner Charité mehrere Wochen dauern. „In etwa drei Wochen werden bis zu 95 Prozent der Vermissten identifiziert und somit offiziell für tot erklärt sein“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Die Familien müssten sich vermutlich am geschlossenen Sarg von ihren Lieben verabschieden. Ein letzter Blick auf die Opfer sei ihnen nicht zuzumuten.
Der Vorstandsvorsitzende des Flugzeugbauers Airbus, Tom Enders, übt scharfe Kritik an den Fernseh-Gesprächsrunden über den Absturz des Germanwings-Flugzeugs. „Was wir kritisch hinterfragen sollten, ist das Unwesen, das manche ‘Experten’ vor allem in TV-Talkshows treiben“, sagte Enders der „Bild am Sonntag“. „Teilweise wurde dort ohne Fakten spekuliert, fantasiert und gelogen“, sagte Enders. „Oft hanebüchener Unsinn. Das ist eine Verhöhnung der Opfer.“
Der Germanwings-Airbus mit 150 Menschen an Bord war am Dienstag in den französischen Alpen an einer Felswand zerschellt. Nach bisherigen Erkenntnissen der Ermittler wurde der Absturz vom Co-Piloten bewusst herbeigeführt. „Piloten verdienen auch weiter unser Vertrauen“, sagte Enders. „Ein schwarzes Schaf macht noch keine Herde.“ Piloten seien in der Regel „sehr zuverlässig“ und „erstklassig ausgebildet“.
Am 17. April soll im Kölner Dom mit einem Gottesdienst und einem staatlichen Trauerakt der Opfer des Flugzeugabsturzes mit 150 Toten vom Dienstag gedacht werden. Erwartet werden dazu neben Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auch Vertreter aus Frankreich, Spanien und anderen Ländern, aus denen die Opfer der Flugkatastrophe stammten.
Im westfälischen Haltern, wo um insgesamt 18 Opfer getrauert wird, soll es am Mittwoch (1. April) einen öffentlichen Gottesdienst geben. 16 Schüler und zwei Lehrerinnen des örtlichen Gymnasiums waren bei dem Absturz der Germanwings-Maschine ums Leben gekommen.
Nach bisherigen Ermittlungen soll der 27-jährige Co-Pilot den Airbus A320 auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf mutwillig in ein Bergmassiv nordöstlich von Marseille gesteuert haben. Dabei kamen alle 150 Insassen des Fliegers ums Leben. Über die Motive des Mannes wird weiterhin gerätselt.
Genauere Erkenntnisse über das Geschehen im Cockpit vor dem Absturz erhoffen sich die Experten vor allem vom zweiten Flugschreiber, der immer noch am Absturzort gesucht wird. Dort sichern Bergungskräfte auch die sterblichen Überreste der Opfer des Absturzes. Rechtsmediziner arbeiten an der Identifizierung derer, die schon ins Tal gebracht wurden.
Französische Ermittler untersuchen auch die Möglichkeit eines technischen Defekts der Unglücksmaschine. „Derzeit kann die Hypothese eines technischen Fehlers nicht ausgeschlossen werden“, sagte der Chef der in Düsseldorf eingesetzten französischen Ermittler, Jean-Pierre Michel, dem französischen Sender BFMTV. Die Ermittlungen gingen voran, es fehlten aber noch „technische Details“. Bei den gemeinsamen Ermittlungen sollten Erkenntnisse vom Absturzort und dem Flugverlauf mit Ergebnissen der deutschen Ermittler verbunden werden, sagte Michel.
Der Co-Pilot hatte nach Erkenntnissen der Ermittler vor seinem Arbeitgeber Germanwings eine Erkrankung verheimlicht. Die Fahnder entdeckten in der Wohnung des 27-Jährigen „zerrissene, aktuelle und auch den Tattag umfassende Krankschreibungen“, wie die Staatsanwaltschaft Düsseldorf mitteilte. Über die Art der Erkrankung wurde nichts mitgeteilt, die Ermittler hatten aber nach Hinweisen auf ein psychisches Leiden gesucht. Ein Abschiedsbrief oder ein Bekennerschreiben wurden nicht gefunden.
Nach Berichten über starke psychische Probleme des Co-Piloten berichtet hatte gab es erneute Mutmaßungen mit Details. Eine offizielle Bestätigung dafür fehlte aber weiterhin. Das Luftfahrtbundesamt in Braunschweig überprüfte nach Angaben seines Sprechers die Personalakte des Germanwings-C-Piloten. „Wir haben Einsicht in die Unterlagen genommen und die Erkenntnisse mündlich an die Staatsanwaltschaft gegeben“, sagte Holger Kasperski der Deutschen Presse-Agentur. „Mehr gibt es dazu aktuell nicht zu sagen“, fügte er hinzu. Andernfalls seien die Ermittlungen gefährdet.
Auch einen sogenannten SIC-Eintrag in der Personalakte wollte der Sprecher nicht bestätigen. Ein solcher Eintrag steht für besondere regelhafte medizinische Untersuchungen.
Der Co-Pilot soll die Unglücksregion in den französischen Alpen seit seiner Jugendzeit gekannt haben. Er sei mit seinen Eltern dorthin gekommen, berichtete Francis Kefer vom Flugfeld in Sisteron dem französische Sender iTele. Diese hätten zwischen 1996 und 2003 mit ihrem Segelflugclub aus Montabaur Flüge in der Gegend unternommen. Sisteron liegt gut 40 Kilometer westlich der Absturzstelle.
Eine Lufthansa-Sprecherin bestätigte indes einen „Tagesspiegel“-Bericht, wonach der Konzern den Angehörigen der Opfer eine Soforthilfe zahlen will. „Lufthansa zahlt bis zu 50.000 Euro pro Passagier zur Deckung unmittelbarer Ausgaben“, zitierte die Zeitung einen Germanwings-Sprecher. In der Nähe der Absturzstelle eröffnete Germanwings ein Betreuungszentrum für Angehörige. In großen deutschen Tageszeitungen bekundeten die Lufthansa und ihre Tochter Germanwings den Hinterbliebenen der Absturzopfer ihre Anteilnahme mit ganzseitigen Anzeigen.
Angesichts der Medienberichterstattung über das Germanwings-Unglück ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob der allem Anschein nach verantwortliche Co-Pilot namentlich genannt werden sollte. Die Redaktion von „Spiegel Online“ teilte ihren Lesern mit, man werde den Namen des Copiloten derzeit nicht vollständig nennen und ihn auch nicht im Bild zeigen. Der „Spiegel“ wiederum veröffentlichte den Namen. „Bild“ und „Faz.net“ entschieden, den Namen ihren Lesern mitzuteilen und begründeten dies mit dem Ausmaß der Flugzeugkatastrophe. Beim Deutschen Presserat gingen bis Freitagmorgen mehr als 200 Beschwerden zur Medienberichterstattung über das Unglück ein.
„In der Regel ist das Privatleben zu achten“, sagte Oliver Schlappat, Referent beim Deutschen Presserat, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er verwies auf die Richtlinie 8.1 des Pressekodexes, die vorsieht, dass bei der Berichterstattung über Straftaten nur dann Namen, Fotos und andere Angaben, durch die Täter oder Verdächtige identifizierbar werden, genannt werden dürfen, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht.
Zum Umgang mit Fotos von Facebook sagte Schlappat, grundsätzlich seien soziale Medien ein legitimes Recherchewerkzeug. Die Netzwerke seien aber „kein Selbstbedienungsladen“, mit ihren Inhalten müsse sorgfältig umgegangen werden. Eine Einschätzung zur Berichterstattung gibt der Presserat grundsätzlich nicht ab, bevor sich die Beschwerdeausschüsse mit den Eingaben befasst haben.
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki stellt sich die Frage, wie ein allmächtiger und liebender Gott ein Unglück wie den Flugzeugabsturz in Frankreich zulassen kann. Genauso bleibe die Frage, warum weltweit Menschen leiden und sterben müssten, sagte er am Sonntag dem Kölner domradio. Zugleich wies er zu Beginn der Karwoche aber darauf hin, dass Jesus Christus gekreuzigt und Gott selber in den Tod gegangen sei. Dies helfe dabei, trotz aller Empörung, Klage und Trauer sich Gott anzuvertrauen und zu beten.
Der Kardinal kritisierte die Berichterstattung nach dem Absturz. Im Minutentakt hätten die Medien immer wieder die gleichen Bilder und Informationen geliefert. „Es gibt Momente, da schweigt man besser“, so der Erzbischof. (HA/dpa/epd/KNA)