Sie fühlen sich im Straßenverkehr benachteiligt, deshalb kämpfen Radler als „Kritische Masse“ um ihren Platz. So auch in Hamburg. Der Zorn der Autofahrer ist programmiert – nicht ganz ungewollt.
Berlin/Hamburg. Heute fahren wir als Sattelzug, verkehrsrechtlich gesehen. Auch wenn wir 16 ganz normale Radler sind. Ab dieser Größenordnung aber wandeln sich die Regeln unversehens. Man darf nebeneinander fahren, die volle Spur einnehmen, und wenn die Ersten die Ampel bei Grün passieren, dürfen alle nachfolgen, selbst wenn sie längst auf Rot umgeschaltet hat. Eben wie bei einem Sattelzug, bei dem in so einem Fall die letzten Achsen auch nicht stehen bleiben können.
16 Radfahrer bilden die „Kritische Masse“, die für die Regelung nötig ist. Sie fahren als zusammenhängender Achtachser, sozusagen. Der Autoverkehr wird dadurch ausgebremst. Und das ist in letzter Zeit auch zum tieferen Sinn des Ganzen geworden.
Was einst als praktische Lösung für Fahrradgruppen gedacht war, ist unter dem Titel „Critical Mass“ (CM) längst zur Massenbewegung, zur Demonstration avanciert, die nicht einmal angemeldet werden muss – der Straßenverkehrsordnung sei’s gedankt. Zum Beispiel am heutigen Freitagabend in Hamburg (Startpunkt ist noch nicht bekannt), morgen in einer anderen größeren Stadt, übermorgen in einer dritten und so weiter, landauf, landab. Auch anderswo in Europa oder Amerika, wo das Ganze 1992 in San Francisco begann. Regelmäßig ein-, zweimal im Monat pro Stadt wollen die Radfahrer auf sich aufmerksam machen, mehr Raum für sich einfordern. Der Zorn der Autofahrer ist dabei programmiert, bei manchen Teilnehmern sichtlich nicht ganz ungewollt. Es ist längst nicht mehr bei 16 Radfahrern geblieben.
In Berlin etwa, wo die Szene an jedem letzten Freitag eines Monats losradelt, kamen beim Juni-Termin bereits 3500 Radfahrer zusammen. Ganze Straßenzüge blieben längere Zeit für den Autoverkehr blockiert. Die Polizei, die sich gern mit einem Verantwortlichen unterhalten hätte, wie ein Sprecher sagte, fand niemanden, und musste sich fortan darauf konzentrieren, „Schaden zu verhindern“. Man habe ja nicht Tausende von Radlern „einfach am Losfahren hindern können“.
Auch wenn die Fahrtrouten nicht vorher festgelegt wurden, bemühte sich die Polizei, die Kreuzungen zu besetzen, um Konfrontationen mit genervten Autofahrern zu verhindern. Bislang liefen die CM-Fahrten in Berlin weitgehend ohne größere Konflikte zwischen motorisiertem und nicht motorisiertem Verkehr ab. Auch aus Hamburg, Freiburg, Leipzig oder den anderen inzwischen mehreren Dutzend „Hotspots“ dieser Aktionsform wurden keine ernsten Zwischenfälle gemeldet.
Das Beispiel Budapest, wo im Jahr 2008 einmal 80.000 Teilnehmer gezählt wurden, zeigt, dass noch Steigerungen möglich sind. Vor allem hierzulande, wo die Lust unter Radfahrern, es den Autofahrern „ mal zu zeigen“, durchaus verbreitet ist. Andererseits zeigt das Beispiel Berlin auch, dass der boomende Fahrradverkehr morgens und abends gerade im laufenden Jahr sämtliche Grenzen sprengt – vor allem die Grenzen der oftmals schmalen, verkommenen, verwurzelten und deshalb aus der Not bisweilen ersatzlos gesperrten Radwege. Eine Situation, die vielen eine Legitimation gibt.
Skepsis selbst unter Radfahrern
Selbst manchem Radfahrer erscheint CM fragwürdig, eben weil es sich nicht um eine Demonstration handelt, sondern den §1 der Straßenverkehrsordnung betrifft: Kein Verkehrsteilnehmer darf durch einen anderen „mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt“ werden. In Internetforen mahnen auch Radfahrer, den – begründeten oder unbegründeten – sowieso vorhandenen Zorn vieler Autofahrer nicht ohne Not noch anzuheizen. So etwas könne die nötige Fahrradpolitik eher blockieren, fürchten einige.
Auch Michael Cramer, Europaabgeordneter und Radverkehrsexperte der Grünen, sagt: „Der Sinn des Ganzen ist es nicht, Autos zu blockieren.“ Es gehe darum, „die Bedeutung des Fahrrads in der Stadt zu zeigen“, und in dem Sinne habe CM bereits zu Erfolgen geführt und mache deshalb Sinn. Die SPD in Hamburg, der zweiten CM-Hochburg, wünscht „weiterhin viel Spaß“ – unter Anspielung darauf, dass das Massenradeln auch als großes Happening gesehen wird. Die FDP bezeichnet die Aktionen hingegen als „gefährliche Massenrundfahrten“, während die CDU „das Engagement für mehr Gleichberechtigung im Verkehr“ begrüßt, aber um mehr Abstimmung mit den Behörden bittet.
Der ADAC geht auf Tauchstation: „Bevor ich dazu eine Stellungnahme abgebe, müssen wir erst eine Mitgliederbefragung durchführen“, sagt eine Sprecherin in der Zentrale in München. Man habe aus der Vergangenheit gelernt.