Entschädigungsforderungen von Patienten steigen zunehmend. Gutachter bestätigen mehr Fälle von medizinischem Pfusch. 99 endeten tödlich.
Berlin. Die Zahl der registrierten Behandlungsfehler von Ärzten in Deutschland ist weiter gestiegen: In 2287 Fällen kamen ärztliche Gutachterstellen im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass Behandlungen, Diagnosen oder die Patientenaufklärung fehlerhaft waren. Das waren 88 Fälle mehr als 2010. Für 99 Patienten endete der Ärztepfusch tödlich. 721 betroffene Patienten erlitten Dauerschäden. Insgesamt erkannten die unabhängigen Gutachter in mehr als 1900 Fällen den Fehler als Ursache für einen Schaden an.
Diese Zahlen nannten gestern die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern. Sie bieten eine vergleichsweise schnelle, aber nicht die einzige Möglichkeit für betroffene Patienten, an Schadenersatz zu kommen. Insgesamt beanstandeten schätzungsweise rund 40 000 Versicherte pro Jahr ihre Behandlung bei Gutachterstellen, Krankenkassen und vor Gericht, sagte der Vorsitzende der Konferenz der Gutachterkommissionen, Andreas Crusius.
Allerdings gehen Experten von einer sehr hohen Dunkelziffer bei Behandlungsfehlern aus. Insgesamt sollen laut unterschiedlichen Schätzungen jährlich Zehntausende Menschen wegen Ärztefehlern allein in Deutschlands Kliniken sterben.
Hüft- und Knieoperationen, Behandlungen wegen Armbrüchen und Brustkrebs zählten zu den häufigsten Eingriffen unter Pfuschverdacht bei den Gutachterstellen. Unter den offiziell anerkannten Behandlungsfehlern betrafen 80 die Hüfte und 71 das Knie. Mehr als 3800-mal warfen Patienten 2011 ihren Ärzten vor, bei Operationen geschludert zu haben. "Dabei kommt es zu Komplikationen, dabei kommt es auch zu Infektionen", sagte Crusius.
Viele der 99 Todesfälle gingen darauf zurück, dass es nach einer Klinik-OP zu einer Infektion mit Blutvergiftung kam, wie der Geschäftsführer der norddeutschen Schlichtungsstelle, Johann Neu, erläuterte. Einen Arztfehler gibt es dabei etwa, wenn trotz Warnzeichen kein Blutbild gemacht wurde. Tödliche Fehler in der Praxis können laut Neu auch verschleppte Krebsdiagnosen sein.
Beispiele zeigen, dass vor allem im hektischen Klinikalltag mitunter passiert, was eigentlich nicht passieren darf. So gingen bei einem 67-jährigen Mann nach der Entfernung der Gallenblase die Bauchschmerzen einfach nicht weg. Die Ärzte untersuchten seinen Bauch erneut ohne Ergebnis - und tippten auf eine Entzündung. Erst bei einer Notoperation in einer anderen Klinik entdeckten Chirurgen einen Beißkeil im Bauch. Der Keil sollte bei der Gallen-OP verhindern, dass der Patient in Narkose auf den Beatmungsschlauch beißt. Doch gesichert war der Keil nicht - und dass der Mann ihn verschluckte, bemerkte niemand.
Eine 56-jährige Frau bückte sich bei der Gartenarbeit - und bekam mit einem Schlag unerträgliche Kopfschmerzen. Ihr Hausarzt schickte sie sofort in die Klinik. Dort nahmen die Ärzte erhöhten Blutdruck als Ursache an. Doch auch nach einer Blutdrucksenkung mit Pillen blieben die Schmerzen. Geschlagene sieben Tage lag die Frau auf Station. Obwohl Gangunsicherheit, Schwindel und Koordinationsstörungen dazukamen, ließen die Ärzte erst am achten Tag eine Computertomografie machen - und entdeckten eine Hirnblutung. Die Frau hatte einen Schlaganfall erlitten.
Es sind solche Fehler, die Patienten Angst einjagen können. Doch an die Öffentlichkeit gehen die Ärztekammern mit Fehlerstatistiken und Fällen, um den Ärzten zu zeigen, was falsch laufen kann, und um die Menschen zu sensibilisieren.
Die leichte Steigerung führte Gutachter Andreas Crusius denn auch auf wachsende öffentliche Aufmerksamkeit zurück. Mit der Zahl der älteren Patienten würden aber auch die schadensträchtigen Eingriffe zahlreicher. Die meisten Fehler passierten in Orthopädie, Unfallchirurgie und Allgemeinchirurgie. Während bei Eingriffen beim Knie- und Hüftgelenk die Fehler in der Regel bei der Operation selbst unterlaufen, werden Patienten mit einem Beinbruch eher Opfer von Fehlern sowohl bei der Diagnose als auch beim Eingriff und bei der Pflege danach.