Raumfahrt: Der deutsche Astronaut startet Sonnabend wieder ins All und könnte dort mehrere Rekorde brechen. Fechten, Kochen, Musizieren sind seine Hobbys. Als Pilot beherrscht er 15 verschiedene Kampfjets. Jetzt plant er den längsten Weltraumausstieg, den je ein Mensch unternahm.

Hamburg. "Es ist überwältigend. Man wird zwar darauf trainiert, jede Sekunde ist verplant, jeder Handgriff vorher trainiert - aber wenn man in dem Bewußtsein draußen ist, in 400 Kilometer Höhe mit 28 000 Stundenkilometern über die Kontinente zu schweben, wenn man vor, über und unter sich nur noch Kontinente sieht, wunderschöne Wolkenformationen, Sonnenauf- und Sonnenuntergänge und auf der Nachtseite Sternenformationen, dann denkt man: Das träumst du. Das muß ein Märchen sein."

So schildert Thomas Arthur Reiter (48) seine spektakuläre Aktion an der russischen Raumstation Mir am 20. Oktober 1995. Der Weltraumausstieg, der erste eines deutschen Astronauten, dauert fünf Stunden und schenkt ihm unvergeßliche Erinnerungen: "Man kann das gar nicht erfassen", sagt er. "Man speichert es ab und versucht, es später zu verarbeiten. Wenn ich jetzt Bilder von unseren Außenbord-Einsätzen sehe, ist das immer noch faszinierend, und ich kann gar nicht glauben, daß ich mal da draußen war."

Jetzt, elf Jahre später, macht sich Reiter wieder auf die Reise: Diesen Sonnabend, um 21.48 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit, soll der Himmelsstürmer mit der US-Raumfähre STS-121 Discovery für die europäische Raumfahrtagentur Esa in den Orbit starten, um mit dem Amerikaner Jeffrey Williams und dem Russen Pawel Winogradow als elfte Stammbesatzung die International Space Station ISS zu bedienen. Wartungsarbeiten und wissenschaftliche Experimente in Medizin und Materialforschung füllen einen engen Zeitplan. Klappt alles, wird Reiter hinterher fast 400 Tage im All auf dem Zettel haben - mehr als fast alle anderen Astronauten seit Juri Gagarins 108-Minuten-Flug von 1961. Mit seinen 179 Tagen von September 1995 bis Anfang 1996 hält er bereits den Rekord unter den nichtrussischen Raumfliegern. Die neue Mission wird bis zu sieben Monate dauern - so lange war noch kein Esa-Raumfahrer unterwegs.

Die unglaubliche Reise in einem ganz und gar nicht verrückten Fluggerät katapultiert den Bundeswehroberst aus Oldenburg nicht nur unter die All Stars der Astronauten, sie befördert ihn auch endgültig in jene Liga der außergewöhnlichen Gentlemen, der die großen Grenzgänger der Entdeckungs- und Technikgeschichte vom Mond-Eroberer Armstrong bis zum Flugzigarrenbauer Zeppelin angehören: Der Deutsche fährt ungleich weiter als die Karavellen des Kolumbus, er wagt sich in eine Welt, die weit kälter und lebensfeindlicher ist als selbst Amundsens Antarktis, und im Fall eines Unglücks sind Rettungsversuche kaum aussichtsreicher als das Bemühen, einen Livingstone des 19. Jahrhunderts aus den unbekannten Dschungeln Afrikas zu bergen.

Doch wie die berühmten Vorgänger qualifizieren den Offizier nicht etwa nur Mut oder Neugier, sondern exakte Kenntnisse von Weg, Fahrt und Ziel. Kolumbus war weder Waghals noch gar Träumer, der Amerika-Entdecker fuhr schon sehr jung zur See, studierte Geometrie und Astronomie, kannte sich in der Navigation aus wie kaum ein zweiter und segelte sogar ins Nordmeer, um dort die Legende von der Neufundlandfahrt des Isländers Leif Erikson nachzuprüfen.

Reiter kann 15 verschiedene Kampfjets fliegen, hat in der Luft mehr als 2300 Einsatzstunden absolviert, beendete ein Studium der Luft-und Raumfahrttechnik an der Neubiberger Bundeswehruniversität als Diplomingenieur, lernte auf der britischen Testpilotenschule Boscombe Dowen und im Moskauer Juri-Gagarin-Kosmonautentrainingszentrum, schaffte das Intensivtraining im geheimnisvollen "Sternenstädtchen" Swjosdny Gorodok vor den Toren der russischen Hauptstadt und erwarb als einer von ganz wenigen Ausländern die Befähigung und Erlaubnis, als Kommandant eine Sojus-TM-Kapsel mit drei Besatzungsmitgliedern zur Erde zurückzubringen.

Die Vorbereitung des Deutschen auf den Flug vom Sonnabend dauerte zwei Jahre, meist im Europäischen Raumfahrtzentrum EAC in Köln-Porz, aber auch bei den Amerikanern; Houston hatte kein Problem mit ihm.

Die zweckbetonte Nüchternheit moderner Technik fördert Persönlichkeiten, die nur höchst ungern über sich und schon gar nicht von Verdiensten oder Fähigkeiten reden. Kollegen und Kameraden kennen den einstigen stellvertretenden Staffelchef eines Jagdbombergeschwaders auf dem Fliegerhorst Oldenburg als einen Typen, der bei seinem Tun sowenig Schnörkel macht wie Totti beim Elfmeter. Dennoch: Anders als bei Armstrongs roboterhaften Auftritten können Astronauten heute auch im All Mensch bleiben und dürfen es sogar zeigen: "Man hat ein kleines bißchen mehr Platz", freut sich Reiter, "und wann immer man Zeit hat, etwa in der Mittagspause, kann man seine Familien oder Freunde anrufen. Auch Videokonferenzen sind möglich."

Außerdem gibt's inzwischen eineinhalb Kilo für private Extras. Dazu gehörten 1995 für "Pink Floyd"-Fan Reiter etwa Ersatzsaiten für eine elektrische Gitarre, die Rußlands Kosmonauten aus der alten "Salut"-Station gerettet hatten. Solch einen Satz Saiten nimmt der Hobbygitarrist auch diesmal mit, dazu ein paar Bilder, eine Computerfestplatte voller Musik von Klassik bis Rock und ein Überraschungspäckchen, das Ehefrau und Kinder für ihn füllten - zu öffnen erst nach dem Start.

Auf ein Testament hat Reiter verzichtet: Das brauche man ja nur, wenn die gesetzlichen Regelungen nicht greifen sollen. Bei ihm nicht nötig. Hobbykoch Reiter lebt mit Ehefrau Consuela und den Söhnen Daniel (14) und Sebastian (9) an seinem alten niedersächsischen Standort, hält sich mit Fechten fit und spielt gern Badminton, aber nicht Skat, was ein guter Gag gewesen wäre, wenn zu zwei einsamen Raumfahrern endlich ein dritter stößt. Zur knappen Freizeit kommen als Entspannungshilfe auch zwei Stunden Fitnesstraining pro Tag, um "für Außenbordeinsätze stark genug zu bleiben, denn in der Schwerelosigkeit baut sich die Muskulatur ab."

Und über Bord zu gehen ist auch jetzt sein großes Ziel: Wenn alles klappt, soll er diesmal nicht mehr nur fünf, sondern sogar sechs Stunden lang im Raumanzug um die Station schweben. Es wäre sein dritter Spaziergang ins All und der längste Ausstieg, den je ein Mensch unternahm. Das wird ein weiteres Märchen sein - und ein weiterer großer Schritt auf dem Weg zu jenen Welten zwischen fernen Sternen, von denen selbst Kolumbus nicht träumte.