Hamburg. Denys Shurman flüchtete mit der Familie nach Hamburg. Jetzt pfiff er erstmals ein Amateurspiel. Was er erzählt, verursacht Gänsehaut.

In der 63. Spielminute beweist Schiedsrichter Denys Shurman seine ganze Klasse. „Foul!“, ruft Concordias Trainer Frank Pieper aufgebracht und hüpft wie ein Flummi in seiner Coachingzone umher. Doch der 35 Jahre alte Shurman erkennt Concordias Überzahlsituation nahe dem gegnerischen Strafraum. Cordis Angreifer Sinisa Veselinovic nutzt Shurmans exzellente Anwendung der Vorteilsregel zum 2:1-Siegtreffer in der Meisterrundenpartie der Oberliga Hamburg gegen den HEBC.

Solche Spielszenen in Hamburgs Amateurfußball finden normalerweise nicht den Weg in die Medien, sondern höchstens in die Blöcke der Schiedsrichterbeobachter. Bei Shurman ist das anders, weil den FIFA-Schiedsrichter und seine Familie ein schlimmes Schicksal getroffen hat. Mit seiner Frau und seinem erkrankten fünf Jahre alten Sohn musste Shurman vor Russlands Krieg in seiner Heimat Ukraine flüchten.

Ukrainischer Schiedsrichter ist dankbar

Erst gelangte die Familie von ihrem Wohnort Wyschnewe nahe Kiew nach Polen. Am 10. März erreichte sie Hamburg, wohnt hier seitdem bei ukrainischen Verwandten. „Noch vor kurzer Zeit habe ich mir nicht vorstellen können, wie sich unser Leben verändern wird. Ich möchte mich bei allen Menschen bedanken, die uns helfen. Wir Ukrainer sind euch Deutschen für eure Hilfe wirklich sehr dankbar“, sagt Shurman nach dem Spiel im Vereinshaus des WTSV Concordia.

Es ist sein erstes Interview in Deutschland. Er führt es auf Englisch, wirkt dabei sehr nachdenklich. Ein trauriger Zug scheint, selbst wenn er lächelt, nie aus seinem Gesicht zu weichen. Als er von den lobenden Worten von Cordis Coach Pieper („Manchmal hat er internationale Härte walten lassen. Er hat insgesamt sehr gut gepfiffen und eine super Körpersprache gezeigt“) und HEBC-Trainer Özden Kocadal („Eine durchweg positive Leistung des Schiedsrichters“) hört, nimmt Shurman sie mit einem fast schüchternen „Dankeschön“ auf Deutsch entgegen. Was Shurman danach erzählt, verursacht Gänsehaut.

Jeden Morgen fragt er seine Verwandten, ob sie leben

„Seit ich hier bin, habe ich ständig an den Krieg gedacht. Jeder Tag startet mit Anrufen bei meiner Mutter, meinem Bruder und meinen Cousins und Cousinen. Ich beginne den Tag immer erst, wenn sie mir sagen, dass es ihnen gut geht. Dass sie am Leben und in Sicherheit sind“, sagt Shurman.

Gemeinsam mit seinem Bruder sei er Inhaber eines Pizza-Lieferdienstes gewesen. Als Fifa-Schiedsrichter wurde er bereits in der U-21- und U-19-EM-Qualifikation und in der Uefa-Conference-League-Qualifikation eingesetzt. Am 7. Dezember vergangenen Jahres in Dortmund leitete er die Partie der Youth League zwischen Borussia Dortmund und Besiktas Istanbul.

"Zwei Stunden lang nicht an den Krieg denken"

In Hamburg angekommen habe er einen Weg gesucht, den Kopf frei zu bekommen von all den Sorgen. Schließlich ist er stets informiert über die neuesten schlimmen Nachrichten aus der Heimat. In einer Messenger-Gruppe mit ukrainischen Schiedsrichtern erhält er aktuelle Bilder vom Kriegsgeschehen aus erster Hand. „Ich wollte mich wenigstens zwei Stunden ablenken können. Zwei Stunden lang nicht an den Krieg denken. Sondern nur an den Fußball. Und mich dabei frei fühlen“, sagt Shurman.

Also nahm er Kontakt mit seinem ukrainischen Schiedsrichterbetreuer auf, um in Hamburg Spiele zu pfeifen. Shurmans Bitte gelangte zu Hamburgs DFB-Bundesligaschiedsrichter Patrick Ittrich (MSV Hamburg), der den Hamburger Fußball-Verband informierte. „Patrick Ittrich hat sich toll um uns gekümmert. Er hat mir sogar Schiedsrichterkleidung geschenkt“, freut sich Shurman.

Ukrainischer Schiri will eine Arbeit finden

Auch neben dem Feld hat er viel zu tun. „Mein Sohn braucht spezielle Medikamente und einen Kindergartenplatz. Ich möchte Deutsch lernen und eine Arbeit finden“, sagt Shurman. Am Dienstagabend leitet er die Landesligapartie zwischen Rasensport Uetersen und Harksheide. Shurman hofft auf so eine „tolle Atmosphäre“ wie beim Cordi-Spiel. „Die Teams haben sich respektiert und uns als Schiedsrichtergespann ebenfalls. Das hat mir sehr gefallen“, sagt er.

Diese schönen Momente auf dem Fußballplatz will Shurman genießen. Bis er Hamburg verlässt, um mitzuhelfen, die Ukraine wiederaufzubauen. „Ich hoffe jeden Tag darauf, dass der Krieg endet. Sobald er vorbei ist, werde ich mit meiner Familie in meine Heimat zurückkehren“, sagt Denys Shurman.