Stuttgart. Die Kiezkicker gewinnen überraschend beim Deutschen Vizemeister durch einen Treffer von Eggestein. Was den wichtigen Erfolg ausmachte.
Diese Wucht der Cannstatter Kurve muss man miterlebt haben. Wenn ein harmloser Zweikampf in der gegnerischen Hälfte genügt, um Vibrationen zu erzeugen, die hunderte Meter entfernt Wirbelgleiten auslösen. Für den VfB Stuttgart hat sie zudem den Vorteil, trotz jüngster Transferaktivitäten nicht zu Borussia Dortmund zu wechseln, um dort die „Gelbe Wand“ zu ersetzen.
Am Sonnabendnachmittag eruptierte diese Kurve jedenfalls gewaltig und schickte den ein oder anderen Weihnachtsgruß an die ansässigen Seismographen. Eine lang geschlagene Flanke weiter Blickrichtung Westen explodierte am Sonnabend gegen 17.25 Uhr ein kleineres Grüppchen, als das in der Cannstatter Kurve. In einer Stadionecke, einer richtigen Kurve, schwenkten die 6000 Fans des FC St. Pauli ihre Fahnen. Trainer Alexander Blessin schrie hemmungslos seine Freude über den 1:0 (1:0)-Sieg heraus, lobte die Anhänger als „absolut erstligareif und unglaublich“, Philipp Treu hüpfte in seine Richtung, als wolle er weitere Erdbeben auslösen.
FC St. Pauli gewinnt beim VfB Stuttgart
Die Partie zuvor hatte genügend Grund zum wohligen Dröhnen und Summen aus den Kurven geboten. Besaß sie doch den Raritätscharakter, zwei Teams zu beinhalten, deren Plan es ist, progressiven Fußball zu spielen. Stuttgarts Trainer Sebastian Hoeneß bezeichnete St. Pauli sogar als „eine der spielstärksten Mannschaften der Liga“.
Was diese schon nach siebeneinhalb Minuten untermauerte, als der ewig emsige Johannes Eggestein nur knapp am Tor vorbei zielte und die Hamburger immerhin mit 0,07:0 expected Goals in Führung brachte. Den Wert der zu erwartenden Treffer stellten die Schwaben anschließend aber ganz flugs um.
Johannes Eggestein bringt die Hamburger in Führung
Ob Enzo Millot (13./18.) oder Julian Chabot (20./26.), der Sieger war in diesem Fall trotzdem nicht der gelungene Reim, sondern immer Keeper Nikola Vasilj. Auffälliger Antreiber der VfB-Angriff war zumeist Nick Woltemade, bei dem optische Erwartungshaltung – Lulatsch, kann aber sicher nichts am Ball – stark mit der Realität – immer noch Lulatsch, aber feinfühlig fürs Leder – auseinanderklaffen.
Was in gewisser Hinsicht auch auf Eggesteins Berufsbild des Stürmers mit dem Anspruch eines Torjägers zutrifft. Was dem 26-Jährigen in seiner Rolle als Anläufer, Arbeiter und erster Abwehrmann allerdings nicht gerecht wird. Sowieso nicht, wenn er dann vor der Cannstatter Kurve technisch stark zum 1:0 (21.) abschließt, um in der Cannstatter Kurve für eine halbe Sekunde das Licht auszuknipsen. Richtiger Knipser eben.
Trainer Alexander Blessin: „Das ist schon was Besonderes“
Vorausgegangen war dem Führungstor eine halb glückliche, halb gewollte Vorlage von Jackson Irvine sowie wieder mal eine gelungene hohe Balleroberung St. Paulis. Blessin, der diesen Stil predigt, hätte wohl irgendwo ein Tränchen verdrückt, wenn das vorher nicht sowieso schon der Fall gewesen wäre. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, das geht hier so einfach an mir vorbei. Das ist schon was Besonderes“, hatte der aus Stuttgart stammende Coach vor dem Duell gesagt.
Nach dem Match durfte er konstatieren: Es war etwas Besonderes. Vor allem, wie seine Schützlinge verteidigten, verteidigen mussten. Denn Stuttgart rollte unaufhörlich und mit viel Tempo über Chris Führich, kam noch vor der Halbzeit wieder durch Millot zum nächsten guten Abschluss (45.+3). St. Pauli aber hielt stand. Im Zweifel hielt Vasilj.
Eggestein verschießt Foulelfmeter
Und dann hielt Nationaltorwart Alexander Nübel (54.). Einen Strafstoß. Von Eggestein. Ganz zentral auf den Mann. Kein peinlich verschossener Elfmeter oder missglückter Panenka, sondern einer der Sorte, die normalerweise immer drin sind, weil die Schlussleute immer in eine Ecke abtauchen.
Und sonst? Immer wieder die Kurve, immer wieder Vasilj – gegen Nationalmannschaftskollege Ermedin Demirović (66.) und natürlich Lieblingsfeind Millot (69.) –, dazwischen mal Oladapo Afolayan mit einem Entlastungsfernschuss (68.). Der Vizemeister drängte enorm, fast schon verzweifelt. Die Gäste verdichteten das Zentrum, standen zeitweise mit sechs Akteuren im eigenen Fünfmeterraum, um Chancen abzublocken. „Sie kämpfen immer so, nicht nur heute“, war es Blessin wichtig zu betonen.
Oladapo Afolayan scheitert zweimal aussichtsreich
„Wir haben alles reingeworfen“, versicherte Hauke Wahl, „das zeichnet uns als Mannschaft aus. Ich kann nur den Hut davor ziehen, wie sich alle abgerackert haben. In den Momenten zusammenzuhalten, in denen es tough ist, ist besonders wichtig“ Der Innenverteidiger nannte den Jahresabschluss das i-Tüpfelchen des Kalenderjahrs. Das nun dringend enden musste. „Es war brutal anstrengend, einige waren den Krämpfen nahe“, sagte Wahl.
Man ergänze für ein gutes Drama folgende Zutaten: Einen Irvine-Steilpass auf Afolayan, der völlig blank am Pfosten scheitert (80.); einen weiteren Durchbruch des Engländers, der diesmal Nübel abschießt (82.). „Das ist frustrierend. Wir haben zu viele Chancen in dieser Saison verpasst“, sagte Afolayan. Man ergänze: Wütende Becherwürfe, die noch vor dem Spielfeld zum Absturz kommen; und noch wütendere Stuttgarter Angriffe.
Es brodelte. Dann erlosch mit dem Schlusspfiff alles. Bis auf eine Kurve. Es war nicht die Cannstatter.
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VfB Stuttgart: Nübel – Rouault (46. Chase), Chabot (74. Stenzel), Mittelstädt – Vagnoman (65. Rieder), Keitel (89. Malanga), Stiller, Führich – Millot, Woltemade – Demirović.
FC St. Pauli: Vasilj – Nemeth, Wahl, Ritzka (70. Dzwigala) – Saliakas, Irvine, Boukhalfa, Treu – Guilavogui (82. Ahlstrand), Eggestein (70. Sinani), Afolayan (90.+1 Albers).
Tor: 0:1 Eggestein (21.). Besonderes Vorkommnis: Nübel hält Strafstoß von Eggestein (54.). Schiedsrichter: Brych (München). Zuschauer: 60.000 (ausverkauft). Gelbe Karten: Keitel, Woltemade (2) – Eggestein (2), Sinani (2). Statistiken: Torschüsse: 23:11; Ecken: 9:1; Ballbesitz: 67:33 Prozent; Zweikämpfe: 146:134; Laufleistung: 119,5:123 Kilometer.