Hamburg. Der renommierte Fachmann attestiert den Kiezkickern eine gute Spielkultur – und noch bessere Chancen gegen den VfL Wolfsburg.
Sieben Spiele bieten nicht gerade den größten Datensatz. Für Tobias Escher reichen sie aber, um einen Irrtum einzuräumen. Dass der 36-Jährige danebenliegt, kommt nicht allzu häufig vor, als renommierter Taktikexperte analysiert er den deutschen und europäischen Fußball scharfsinnig. Doch der FC St. Pauli ist nun mal der etwas andere Verein – und der kann selbst mal einen wie Escher aufs Glatteis führen.
Denn diesen Aufsteiger habe er nicht etwa – was bei nur vier Punkten und Platz 16 zu erwarten wäre – überschätzt, „ich habe sie unterschätzt“. So viel Kompaktheit und Körperlichkeit in defensiv letzter Linie überraschte Escher. Gleichwohl käme ein Erfolg des Kiezclubs gegen den VfL Wolfsburg an diesem Sonnabend (15.30 Uhr/Sky) für den Hamburger nicht ex abrupto. In den Niedersachsen dürfte ein äußerst passender Gegner im Millerntor-Stadion gastieren, um den ersten Heimsieg der Saison zu feiern.
Taktik-Experte Tobias Escher: „Wolfsburg ein guter Gegner für St. Pauli“
„Das könnte ein gutes Spiel für St. Pauli werden. Der VfL hat beim 2:4 gegen Werder Bremen in der Vorwoche einen spielerischen Offenbarungseid geliefert“, sagt Escher. Insbesondere das Mittelfeld der Niedersachsen sei schwach, die Mannschaft von Trainer Ralph Hasenhüttl versuche, es schnell zu überspielen. „Wenn St. Pauli kompakt steht und die Flügel absichert, kann Wolfsburg genervt werden“, glaubt Escher.
Dass die Wölfe voraussichtlich ebenfalls überwiegend in einem 3-4-3 agieren, dürfte den Hamburgern entgegenkommen, da die defensiven Zuteilungen somit relativ eindeutig geregelt sind. Aufpassen müssen die Hausherren allerdings, mit den Verteidigern nicht zu weit aufzurücken, da die Gäste sonst ihren blitzschnellen Angreifer Mohamed Amoura (24) ins Tempo schicken können. „Man darf ihm keinen Raum geben“, warnt St. Paulis Cheftrainer Alexander Blessin, der nach Abendblatt-Informationen wieder Marwin Schmitz (17) in den Kader berufen will, vor dem Algerier, den er vergangene Saison in Belgien bei Royale Union Saint-Gilloise trainiert hatte.
Kiezkicker dürften häufig den Ball haben – was gut ist
Apropos Training: Das scheint anzuschlagen. „Zuletzt hat St. Pauli eine hohe Kompaktheit defensiv gezeigt, hat im 5-4-1 aus einer stabilen Ordnung heraus gespielt. Da zeigt sich der Lernprozess der ersten Spiele“, sagt Escher, der meint, der Neuling habe nun seine Rolle in der Bundesliga gefunden. Soll bedeuten: einen guten Mix aus hohem Pressing und einer zurückgezogenen Fünferkette.
Dauerhaft mit 27 Prozent, wie zuletzt bei Borussia Dortmund (1:2) und beim SC Freiburg (3:0) zu bestehen, dürfte allerdings schwierig werden – und gegen Wolfsburg unmöglich, weil St. Pauli zwangsläufig den Ball haben wird. Der VfL ist mit durchschnittlich 42 Prozent Schlusslicht der Liga. Die gute Nachricht für alle Braun-Weißen: „St. Pauli kann etwas mit dem Ball anfangen. Für einen Aufsteiger spielen sie vergleichsweise selten lang, sondern vielfach flach und sicher von hinten heraus“, sagt Escher.
Schwächen der Hamburger: keine Durchschlagskraft, wenig Kreativität
Besonders wenn Eric Smith als mittlerer Innenverteidiger in den Sechserraum vorrückt, sei dies solide umsetzbar. „Die Mannschaft nimmt viele gute Positionswechsel vor, dadurch wird eine Dynamik im Aufbauspiel erzeugt, die besser ist als von manch anderem Bundesligisten“, sagt Escher.
St. Pauli – hier kommen wir zu den Schwachpunkten – brauche diese Ballbesitzphasen allerdings. Einerseits zum Ausruhen, weil das intensive Gegenpressing kräfteraubend ist. Andererseits, „weil sie in letzter Linie keine Sturmoption haben, um Tore zu erzwingen“, so Escher. Im letzten Drittel mangele es an Kreativität, die durch den Ausfall von Elias Saad noch mehr abgeht. Viele Spieler fühlen sich wohl, wenn sie den Ball bekommen, aber nicht, wenn sie ihn haben.
Konterabsicherung gegen Wolfsburgs Mohamed Amoura muss stimmen
Ein weiteres Problem sei, dass Blessin trotz eines sauberen Aufbauspiels nicht ins letzte Risiko gehen könne, weil defensiv das Tempo gegen Konter – Stichwort Amoura – fehlt. „Daher ist es bei St. Pauli wichtiger als bei jedem anderen Team, dass möglichst lange die Null steht“, sagt Escher.
Könnte er Empfehlungen für die Transferperiode im Winter abgeben, er würde Sportchef Andreas Bornemann zu Verpflichtungen mit Durchschlagskraft im Angriff und mehr Kreativität auf den offensiven Außenbahnen raten. „Ein Stürmer, der den Ball halten kann.“
Escher traut St. Pauli den Klassenerhalt zu
Den Klassenerhalt traut Escher St. Pauli aber auch so allemal zu. „Bislang waren sie in jedem Spiel mit dabei“, sagt er. Das sind gute Nachrichten für die Hamburger. Denn zweimal liegt ein Experte wie Escher sicher nicht daneben.
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FC St. Pauli: Vasilj – Wahl, Smith, Mets – Saliakas, Irvine, Wagner, Treu – Afolayan, Eggestein, Guilavogui.
VfL Wolfsburg: Grabara – Vavro, Bornauw, Koulierakis – Baku, Özcan, Gerhardt, Kaminski – Wind – Tomás, Amoura.