Hamburg. Der neue Trainer FC St. Pauli stellte zuletzt nach drei Niederlagen um – und hatte plötzlich Erfolg. Garantiert ist dies aber nicht.

Kingston upon Hull fristet im Gegensatz zu Hamburg eher ein Schattendasein. Die 260.000-Einwohner-Stadt, gelegen am Nordufer der Flussmündung des River Hull in den Humber, ist wohl nur ausgesprochenen England-Kennern ein Begriff. Oder eben Fußballfans. Hull City heißt der örtliche Zweitligist, der 2017 letztmalig aus der Premier League abstieg, 2020 sogar bis in die Dritte Liga abrauschte und ein Jahr später als Meister wieder in die Zweite Liga aufstieg.

Im Gegensatz zu derartigen Turbulenzen ist der HSV im mittlerweile siebten Zweitligajahr die pure Konstanz. Am besten beurteilen kann das wohl Trainer Tim Walter, der von 2021 bis zum Februar dieses Jahres bei den Hamburgern und Vertrag stand und seit dieser Saison versucht, Hull City wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Vergleichen lassen sich Walters holprige erste Wochen und Monate in Kingston upon Hull aber nicht mit dem HSV, sondern ausgerechnet mit dem FC St. Pauli.

St.-Pauli-Trainer Blessin sah sich früh einer Systemdebatte gegenüber

Auch die Kiezkicker haben in Alexander Blessin einen neuen Cheftrainer – und bisher nur überschaubaren Erfolg. Erst am vergangenen Sonntag holte der Bundesliga-Aufsteiger gegen Champions-League-Teilnehmer RB Leipzig den ersten Punkt im vierten Saisonspiel. Auch im DFB-Pokal hatten sich die Hamburger beim Regionalligisten Hallescher FC nur mit 3:2 nach Verlängerung weitergequält.

Es gehört zum ganz normalen Fußballgeschäft, dass Trainer Blessin vor dem Leipzig-Spiel unter Druck stand. Schließlich hatte der neue Coach das erfolgreiche 3-4-3-Ballbesitzsystem von Aufstiegstrainer Fabian Hürzeler abgelegt und stattdessen auf ein 3-5-2-Umschaltfußballsystem gesetzt. Und dann auch noch in Elias Saad und Oladapo Afolayan zwei der besten Spieler des Kaders konsequent auf der Bank gelassen. „Der soll nicht so stur sein“, lautete das Urteil vieler Fans nach den ersten erfolglosen Saisonspielen.

Walter wurde sein System beim HSV zum Verhängnis

Auch Tim Walter kennt diesen Vorwurf. Schon beim HSV war dem 48-Jährigen sein fast schon mantraartiges Festhalten an der offensiven und risikobehafteten 4-3-3-Taktik zum Verhängnis geworden, weil sein Team defensiv viel zu anfällig war. Anpassungen an den Gegner gab es unter Walter („Wir bleiben bei uns.“) noch seltener als Spiele ohne Gegentore. Ist das Sturheit oder konsequentes Handeln?

Unmut bei den Fans riefen auch Walters ersten Spiele in Hull hervor. Inklusive Vorbereitung konnte der Coach, der zu Beginn noch auf ein 4-1-4-1-System gesetzt hatte, in sechs Test-, fünf Ligaspielen und einem im Pokal nicht einen einzigen Sieg vorweisen. Auch medial gab es etwa von der „Hull Daily Mail“ („Manchmal war es schwer zu erahnen, was der Plan war.“) deutliche Kritik, der beliebte Youtube-Fußball-Kanal „HITC Sevens“ veröffentlichte gar eine 41-minütige Chaos-Analyse unter dem Titel „What on earth is going on at Hull City?“ („Was zur Hölle ist bei Hull City los?“).

Jürgen Klopp stellte sein Liverpool-System so gut wie nie um

Erst am vergangenen Freitag wurde Walter erlöst, feierte mit neuem 4-3-3-System einen 3:1-Erfolg bei Stoke City. Und auch Blessin überzeugte zwei Tage später mit St. Pauli, als er ebenfalls auf ein 4-3-3-umstellte, die von vielen geforderten Saad und Afolayan in die Startelf beorderte und beide Profis – wie sollte es auch anders sein? – auch noch zu den besten Spielern auf dem Platz zählten. Alles nur eine Frage des Systems? Ganz so einfach ist es nicht.

Denn ein guter Trainer hat nicht nur ein gutes Spielsystem, sondern auch einen Blick dafür, was am besten zum eigenen Kader und auch zum jeweiligen Gegner passt. Ausnahmetrainer Jürgen Klopp war in seinen Jahren beim FC Liverpool mit seinem 4-3-3-System ein offenes Buch. Im Gegensatz zu Tim Walters 4-3-3-Jahren beim HSV wusste Klopp aber, dass er über einen Weltklassekader verfügt, der dieses System auch umsetzen kann. Walter hingegen wurde immer wieder von Fehlern und mangelnder Geschwindigkeit seines Zweitligakaders überrascht.

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Beim FC St. Pauli hatte Blessin von Beginn an betont, dass er flexibel agieren wolle und das 3-5-2-System nicht in Stein gemeißelt sei. Der Gedanke, dass sich das Ballbesitzsystem der vergangenen Zweitligasaison gegen nun deutlich stärkere Kontrahenten nicht nahtlos fortführen lässt – Stichwort Gegneranpassung – ist nachvollziehbar. Abgesehen davon sollte man aber auch beachten, dass Blessin bisher nur eine Transferperiode lang Zeit hatte, den Kader nach seinen (System)-Wünschen zu verändern.

Zeit, um das richtige System zu finden, gibt es im ergebnisgetriebenen Fußballgeschäft aber nur selten. Das gilt für Hamburg genauso wie für Kingston upon Hull.