Brighton. Von St. Pauli in die Premier League: In Brighton ist Fabian Hürzeler vorgestellt worden. Was ist das für ein Club? Ein Ortsbesuch.

Brighton verfügt über die für Städte unübliche Eigenschaft, von unten schöner auszusehen als von oben. Die Aussicht aus 138 Metern vom „Brighton i360“ kostet stolze 18,50 Pfund. Der Blick von der ringförmig-verglasten Aussichtsplattform direkt am Strand bietet dafür Übersicht über allerhand vergleichsweise konturlose Dächer und den Ärmelkanal, der gute 200 Kilometer weiter in Frankreich brandet. Zur Sicherheit weist ein Schild Besucher darauf hin, dass sich dort offenkundig „The Sea“ befindet. So weit, so unspektakulär. Also lieber schnell hinunter vom „Donut am Stiel“, rein in die verwinkelten, charmanten und durchweg bunten Gassen. Dorthin, wo sich das Leben im südenglischen Urlaubsort abspielt. Rein ins „Caxton Arms“.

Hier ist das Reich von Brett Mendoza, dem „Landlord“, einem glühenden Anhänger von Brighton & Hove Albion. Zwei Regeln gelten in seinem kleinen Pub, der zwei Räume mit je sechs Tischen nebst Biergarten beinhaltet, wie eine Tafel über dem Eingang zur Toilette verrät: „No drugs, no dickheads“ (Keine Drogen, keine Vollidioten). Weder das eine, noch das andere ist zu sehen, dafür eine in blau-weiß getränkte Wand voll mit Fanutensilien der „Seagulls“. Auf den Fernsehgeräten läuft am Montagabend das EM-Achtelfinale zwischen Frankreich und Belgien. Es interessiert niemanden. Spannender ist dieser „Mr. Fabian, oder wie der heißt“.

Fabian Hürzeler als Cheftrainer bei Brighton & Hove Albion vorgestellt

Viel mehr weiß Paul noch nicht über Fabian Hürzeler. Aber was der frisch vom FC St. Pauli gewechselte Cheftrainer mit seinem Herzensverein anfangen möchte, das will der 55-Jährige ganz genau wissen. Verbunden mit einer gewissen Erwartungshaltung, die sich ein „lebenslanger Fan“ und Dauerkartenbesitzer herausnehmen darf: „Ich hoffe, er lässt nach vorne spielen. Nicht immer dieses elendige Von-Seite-zu-Seite-Gepasse unserer englischen Nationalmannschaft.“ Keine Sorge, in dieser Hinsicht ist Brighton bei Hürzeler in den richtigen Händen.

„Wir werden versuchen, defensiv sicher zu stehen und viel Ballbesitz zu haben. Mehr ins Detail gehen wir vielleicht nach ein paar Monaten“, sagt Hürzeler am Dienstagvormittag bei seiner offiziellen Vorstellung. So etwas würde bei Paul und seinen Amstel trinkenden Kumpels verfangen. Mit akademischem Taktiksprech braucht man im „Caxton Arms“ niemandem zu kommen. „Wir sind ein kleiner Club in einer kleinen Stadt. Den Leuten ist einfach nur wichtig, dass sie unsere Fußballer gut vertreten“, sagt Paul.

Brighton ist eine liberale Stadt, der Fußballclub ambitioniert

Brighton sei eine liberale und sehr entspannte Stadt, meint auch Barkeeper Jack, ein Arsenal-Fan. Punktuell erinnern die farbenfrohen Straßen der North Laine tatsächlich ein wenig an St. Pauli. Und doch ist es eine gänzlich andere Welt, in die sich Hürzeler als jüngster Premier-League-Trainer bisher stürzt.

Das wird offenkundig im „American Express Elite Football Performance Center“ im verschlafenen Vorort Lancing. Der Name ist Programm. Hier ist fast alles größer als bei St. Pauli, die ultra modernen Trainingsanlagen, die Zahl der Mitarbeiter, nur selten dagegen das Interesse. In England fokussieren sich die Medien vor allem auf die großen Sechs, Brighton fliegt unter dem Radar.

Hürzeler war der herausragende Kandidat für Clubbesitzer Tony Bloom

Nun haben sich aber gut 30 Journalisten versammelt, um Hürzelers ersten Auftritt zu verfolgen. „Vor 20 Jahren hat sich kaum jemand für den Verein interessiert, jetzt sieht man überall Kinder mit Brighton-Trikots“, sagt Paul Hayward, einer der bekanntesten Sportautoren in Großbritannien. Vor allem Clubbesitzer Tony Bloom ist dafür verantwortlich, der ehemalige Pokerprofi investierte Abermillionen seines Vermögens in das Team, installierte eine extrem datenbasiertes Scoutingsystem für Spieler – und auch Trainer. Als sich zum Saisonende der Abgang des Italieners Roberto De Zerbi abzeichnete, spuckte Blooms Computer einen Namen als bestgeeigneten Nachfolger aus: Fabian Hürzeler.

Brightons Besitzer Tony Bloom (54/l.) war sofort überzeugt von Fabian Hürzeler.
Brightons Besitzer Tony Bloom (54/l.) war sofort überzeugt von Fabian Hürzeler. © Imago | Steven Paston

„Er war der herausragende Kandidat und ist die mit Abstand am wenigsten riskante Lösung“, sagt Bloom, ein kleiner Mann, dem selbst sein maßgeschneiderter ultramarinblauer Anzug zu groß wirkt, sichtlich stolz. Als er Kontakt in Richtung Hürzeler aufnahm, war dieser bereits in einer anderen Welt. Nicht in der Premier League, sondern mit Freunden im Urlaub. „Ich war ganz ehrlich davon überzeugt, als Trainer von St. Pauli in die neue Saison zu gehen. Es hätte nicht viele Vereine gegeben, die mich hätten überzeugen können“, sagt Hürzeler. Doch dann rief sein Berater und enger Vertrauter Hannes Winzer anfragte, ob er sich einen Wechsel nach Brighton vorstellen könne? „Ich würde zu Fuß dorthin gehen, habe ich ihm geantwortet“, sagt der 31-Jährige, dessen neuer Kurzhaarschnitt sich bereits der englischen Mode angeglichen hat.

Hürzeler: „Ich mag die DNA dieses Vereins und neue Herausforderungen im Leben“

Die Begründung für die Begeisterung des Bayern ist simpel: „Ich habe jedes Spiel der vergangenen Saison gesehen. Als ich im Dezember live hier war, bin ich zum Fan geworden, es war ein unglaubliches Gefühl, Fußball in England zu erleben. Ich mag dazu einfach die DNA dieses Vereins, den analytischen, datengetriebenen Ansatz“, sagt er. Dazu reizen ihn neue Herausforderungen im Leben. Manchmal muss man die Chancen eben nutzen, wenn sie sich ergeben.

Die bei Bloom verwandelte er nach vier Stunden. „Nach dem unerwartet langen Gespräch waren wir uns klar, dass er unser Mann ist. Es war beeindruckend, wie viel er über Fußball weiß, wie intelligent und reif er ist. Wir hatten den Eindruck, einen Trainer mit der Erfahrung von Dekaden vor uns sitzen zu haben“, sagt Bloom.

Jüngster Premier-League-Coach jemals überzeugt: „Ich gehöre hierhin“

Die Chance bei den Medien nutzte Hürzeler erwartungsgemäß spielerisch. Schon nach wenigen Minuten war das Eis gebrochen, das kecke, neugierige Lächeln tauchte in seinem Gesicht auf. Es schien dem Meistertrainer ein Genuss zu sein, in akzentuiertem und nur anfangs mechanischem Englisch Pointen in seine Antworten einzubauen. „Ich habe in der Premier League noch keine Gelbe Karte kassiert“, scherzte er angesprochen auf sein Temperament an der Seitenlinie. Auch die ewige Frage nach seinem Alter räumte er in gewohnter Lässigkeit („junger Mensch, erfahrener Trainer“) ab.

Dass er sich sehr wohl in der als beste Liga der Welt geltenden Premier League sieht, machte Hürzeler aber ebenso deutlich: „Tief in mir habe ich immer die absolute Überzeugung, mit meinem Team ganz, ganz Großes erreichen zu können.“ Um zu erfahren, dass es weit oben auch hässlich zugehen kann, braucht Hürzeler aber keine Fahrt mit dem „i360“ zu unternehmen. Der Druck und die immensen Erwartungen sind ihm bewusst, wenngleich Bloom als geduldiger Besitzer gilt, der Trainern die notwendige Zeit gibt. Hürzeler hat einen Vertrag bis 2027.

„The special one“ und „The normal one“ folgt „The grounded one“

„Mir ist klar, dass ich diese Möglichkeit ungewöhnlich früh erhalten habe, daher gehe ich sie in größter Bescheidenheit an. Das Gute ist, ich dürfte nicht als schlechterer Trainer hier rauskommen“, sagte Hürzeler. In Anlehnung an José Mourinho („The special one“) und Jürgen Klopp („The normal one“) bezeichnete er sich als „The grounded one“, den Bodenständigen. Würde zu Brighton passen.

Dort an der Fanbasis hat Paul gerade das nächste Bier bestellt, sein Kumpel neckt ihn in einem völlig unverständlichen Dialekt. „Der Neue soll ein bisschen Verve in unsere Mannschaft bringen, das wäre schon mal was, um den Spirit nach dem enttäuschenden Ende der vergangenen Saison wiederzubeleben“, sagt Paul. Dass Hürzeler von St. Pauli kommt, gefällt ihm: „Hier in England hört man viel Gutes von dem Verein, dass er sich wirklich für die Gesellschaft einsetzt. Bei uns verhält es sich im Kleinen ähnlich.“

Brighton und St. Pauli weisen Gemeinsamkeiten auf

Einige Gemeinsamkeiten sind auch Hürzeler aufgefallen. „Die Möwen kenne ich schon aus Hamburg“, sagt er und lacht. Wenngleich die omnipräsenten britischen Vögel auch ohne vorherige wissenschaftliche Überprüfung die größten und verfressensten ihrer Art sein dürften. Auf Vögel menschlicher Gattung ist Hürzeler in den wenigen Tagen seit seiner Ankunft bislang nicht getroffen. Brighton gefalle ihm sehr gut, noch ist er auf Wohnungssuche, worum sich bei einem Premier-League-Club selbstverständlich eine eigens dafür abgestellte Mitarbeiterin kümmert. „Ich bin schon in den Genuss einiger kurzer Gespräche mit den Fans gekommen. Das scheinen weltoffene Menschen zu sein, ich mag die Multikulturalität hier in der Stadt“, sagt Hürzeler. Das erinnere ihn an St. Pauli.

So sehr er sich auf die neue Aufgabe freut, der Abgang vom Kiezclub hat ihn berührt. Die Entscheidung zum Wechsel sei eine ganz harte gewesen, den Ärger der Fans kann er nachvollziehen. Aber: „Ich gehe nicht im Groll vom FC St. Pauli weg. Gern hätte ich auch dort erlebt, wie sich die Mannschaft in der Bundesliga weiter entwickelt.“ Auch zwischen ihm und Sportchef Andreas Bornemann gebe es kein böses Blut, sondern nur gegenseitige Dankbarkeit und Wertschätzung.

Wo ABBA einst groß herauskam, will das auch Fabian Hürzeler

Damit ihm die auch bei Brighton zuteilwird, gilt es, an die Arbeit zu gehen. Am kommenden Montag wird der Tabellenelfte der Vorsaison das Training aufnehmen. „Schritt für Schritt wollen wir zu dem Team werden, gegen das niemand spielen möchte. Wir wollen das Establishment herausfordern.“ Im „Caxton Arms“ würde es Beifall für diesen Satz geben.

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Nicht weit davon entfernt befindet sich der „Brighton Dome“. ABBA kam dort 1974 mit dem Sieg beim Eurovision Song Contest ganz groß raus. Das will nun auch Hürzeler. Bloom sowieso. „Dauerhaft die Top 10 zu erreichen, ist vorerst unser Ziel“, sagt der als volksnah geltende 54-Jährige. Paul würde es dagegen schon genügen, kein „Waterloo“ zu erleben. „Was mein Wunsch ist? Nicht abzusteigen, ich bin ein bescheidener Brighton-Fan, wir sind auch zufrieden, wenn wir nicht ganz oben stehen.“