Hamburg. Der voraussichtliche neue Trainer des FC St. Pauli steht für mehr als nur Gegenpressing. „Wenn er 2:0 führt, denkt er nur ans 3:0“.
Namenswitze sind der verpönte Gipfel alberner Wortspielchen. Aber mitunter gibt es kein Vorbeikommen. Denn je stärker sich die Eindrücke verfestigen, umso mehr deutet darauf hin, dass eine Verpflichtung von Alexander Blessin für den FC St. Pauli ein „blessing“, ein Segen also, wäre.
Kritische Stimmen kommen selbst neutralen Beobachtern nur schwer über die Lippen. Ehemalige Weggefährten muss man gar nicht erst animieren, ehe sie sich an Lobeshymnen verschlucken. Über „Alex“, einen „großartigen Typen“; einen „Mann mit Charisma“; und einen „immer positiv kommunizierenden Menschenfänger, den die Fans lieben werden“.
So lässt St. Paulis voraussichtlicher neuer Trainer Alexander Blessin spielen
So weit, so gut. Aber Punkte soll der 51-Jährige kommende Saison in der Bundesliga auch fangen. Wie das auf dem Platz funktionieren soll? Die Antwort ist eindeutig – und irgendwie auch nicht.
„Ich nenne das ,Total Football’, was er spielen lässt. Er sich dem voll verschrieben, will, dass alle verteidigen, wenn der Ball beim Gegner ist, und dass alle angreifen, wenn das eigene Team ihn besitzt“, sagt Philippe Albert. Der ehemalige belgische Nationalspieler, der 1996 und 1997 jeweils Vizemeister der Premier League mit Newcastle United wurde, arbeitet als TV-Experte und hat viele Spiele von Blessins noch aktuellem Club Royale Union Saint-Gilloise analysiert. „Sie waren diese Saison die beste und dominanteste Mannschaft der Liga, hatten in den Play-offs ein wenig Pech, sonst wären sie Meister geworden“, sagt der 58-Jährige.
Belgische Legende Philippe Albert schwärmt: „Er hat einen fantastischen Job gemacht“
Für den früheren Abwehrspieler ist aber gar nicht die abgelaufene Saison prägend für seine Meinung von Blessin gewesen, sondern dessen zwei Jahre bei KV Oostende von 2020 bis 2022: „Das ist ein wirklich kleiner Club mit bestenfalls durchschnittlichen Spielern, bei dem er einen fantastischen Job gemacht hat.“
Die Akteure haben sich auch individuell konstant verbessert. „Es war ein Genuss, ihnen beim Spielen zuzusehen, was in erster Linie bedeutet hat, ihnen beim Pressing zuzusehen“, sagt Albert.
Oostende war das pressingintensivste Team der belgischen Liga
Gegenpressing, also das direkte Pressing nach Ballverlust, ist die zentrale Komponente in Blessins Strategie. Das verwundert wenig, da er dem Red-Bull-Kosmos entstammt, wo dieser Stil radikal gelehrt und umgesetzt wird.
„Für mich ist er ein RB-Coach 1.0, kaum jemand in Europa lässt ein intensiveres Gegenpressing spielen“, sagt Gauthier Ganaye. Als Sportdirektor von Oostende gab der Franzose Blessin die erste Trainerchance im Profifußball, nachdem dieser zuvor acht Jahre lang im Nachwuchsleistungszentrum von Leipzig gearbeitet hatte. Eine mutige Entscheidung von Ganaye, die sich auszahlen sollte. Oostende wurde Fünfter, war das pressingintensivste Team der belgischen Liga und europaweit in dieser Statistik in den Top fünf.
Mannorientierte Verteidigung, defensive Gemeinschaft: Darauf setzt Blessin
„Alex fordert von seinen Spielern ein, defensiv als Gemeinschaft zu arbeiten, um den Ball schnellstmöglich zurückzuholen und Chancen dadurch auf die direkteste Weise zu kreieren“, sagt der 35-Jährige. Blessins Mannschaften würden zumeist hoch stehen, aggressiv auf den Ball gehen.
Dafür nehme der mannorientiert agierende Trainer auch das Risiko von langen Bällen in Kauf, sowie dass seine Innenverteidiger in Eins-gegen-Eins-Duelle gehen müssen. „Aber nicht falsch verstehen“, bemerkt Ganaye, „die Restverteidigung besitzt einen hohen Stellenwert.
St. Pauli soll an Kilian Fischer vom VfL Wolfsburg interessiert sein
Der Sechser ist der Schlüsselspieler, der die Balance herstellen muss.“ Zu all dem passt, dass St. Pauli an Kilian Fischer (23), einem Rechtsverteidiger des VfL Wolfsburg, der auch im zentralen Mittelfeld spielen kann, interessiert sein soll.
Bei aller Bedeutung der Defensive ist die Ausrichtung Blessins eindeutig: „Er ist ein offensiv denkender Trainer“, sagt die Sportjournalistin Valerie Van Avermaet vom „Nieuwsblad“. „Wenn seine Mannschaft mit 2:0 führt, denkt er nur an das 3:0“, versichert Ganaye.
Künftiger Kiezcoach zeigte sich bei Saint-Gilloise anpassungsfähig
Was sich bis hier hin alles sehr dogmatisch anhört, entpuppt sich als pragmatisch. Bei Saint-Gilloise war der Schwabe in der Lage, mit qualitativ hochwertigeren Spielern einen Ballbesitzfußball aufzuziehen.
„Er hat sich schnell umgestellt, kann sein System auch adaptieren. Wie gut ihm das gelungen ist, hat mich schon überrascht“, sagt Ganaye über seinen Freund. Wenngleich St. Pauli als Aufsteiger wohl vornehmlich gegen den Ball arbeiten wird, ist die Perspektive der Anpassungsfähigkeit vielversprechend.
Blessin legt viel Wert auf Fitness und Standards
Und auf zwei weitere Fokuspunkte können sich die Kiezkicker unter ihrem wahrscheinlich künftigen Übungsleiter einstellen. Erstens: Es wird anstrengend. „Physisch verlangt der Stil Blessins den Spielern viel ab, sie müssen topfit sein“, sagt Albert. Bereits unter Fabian Hürzeler (31) war das eine Kernvoraussetzung bei den Hamburgern.
Zweitens: Standards werden an beiden Enden des Spielfelds eine große Rolle spielen. „Er legt sehr viel Wert darauf, fast 30 Prozent der Tore seiner Mannschaften basieren direkt oder im relativen Anschluss auf ruhenden Bällen“, sagt Ganaye. In Peter Nemeth (51) verbleibt bei St. Pauli passenderweise der Co-Trainer im Stab, der in den vergangenen eineinhalb Jahren für die offensiven Standards verantwortlich war.
Deal zwischen St. Pauli und Saint-Gilloise soll Ende der Woche stehen
Dass der RB-Fußball in der Bundesliga funktionieren kann, ist längst bewiesen. Ob das auch auf St. Pauli unter Blessin gelingt, steht aus.
Am Mittwoch tat sich recht wenig zwischen Hamburg und Brüssel, mit einer Einigung der Clubs war aber ohnehin erst zum Ende der Woche hin zu rechnen. Sollte dann alles wie geplant kommen, „kann man allen Seiten nur gratulieren. Ich bin sicher, Blessin wird sich hervorragend machen“, glaubt Albert.
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Ganaye geht noch einen Schritt weiter: „Die DNA von St. Pauli passt hervorragend zu seiner Persönlichkeit. Die Spielweise wird die Zuschauer aus ihren Sitzen heben.“ Sieht so aus, als sei Blessin mindestens schon mal für die Fans ein Segen.