Hamburg. Der Kiezclub hat seinen Wunschkandidaten ausgemacht. Aber noch stehen Verhandlungen mit dessen Club aus.
Die Anrufe liefen ins Leere. Alexander Blessin war am Montag nicht zu erreichen. Zumindest nicht für jedermann. Das Wichtige für den FC St. Pauli: Für Sportchef Andreas Bornemann blieb die Leitung des 51-Jährigen frei. Die beiden dürften sich in den vergangenen Tagen häufiger ausgetauscht haben, um zu erörtern, ob Blessin als Nachfolger von Fabian Hürzeler ein geeigneter Cheftrainer wäre.
Die Resultate: Ja, ist er; und ja, er will offenbar auch. Eine mündliche Einigung soll am Montag bereits erzielt worden sein, ein Abkommen zwischen St. Pauli und Blessins aktuellem Club Royale Union Saint-Gilloise steht allerdings noch aus. Alle Seiten müssen also weiter erreichbar bleiben.
Alexander Blessin und der FC St. Pauli sind sich mündlich einig
Die Erreichbarkeit ist es auch, die eine zentrale Rolle bei einem möglichen Wechsel des Schwabens auf den Kiez spielt. Nämlich die von Stuttgart. Blessin möchte seiner Familie, also Frau Charlotte und den drei Teenager-Töchtern (13, 16 und 19), wieder näher sein.
Klingt nur beim ersten Eindruck komisch. Zwar trennen den Brüsseler Vorort Saint-Gilles und die baden-württembergische Landeshauptstadt 525 Kilometer, während es 656 Kilometer zwischen Hamburg und Stuttgart sind. Allerdings lässt sich zweitgenannte Wegstrecke täglich mehrfach per einstündigem Flug überbrücken, die erste ist sechs Autostunden lang.
Blessins Frau erlitt einen Rückenmarksinfarkt
Mindestens einmal, mitunter auch zweimal pro Woche war Blessin in der abgelaufenen Saison in die Heimat gependelt. Die hohe Frequenz ist einem Schicksalsschlag geschuldet. Seine Partnerin erlitt vor rund zehn Monaten einen Rückenmarksinfarkt, ist seitdem teilgelähmt und bis auf Weiteres auf den Rollstuhl angewiesen. Nervenerkrankungen heilen nur äußerst langsam, eine dauerhafte Heilung ist momentan nicht abzusehen.
Blessin hatte damals direkt ans Aufhören gedacht, Charlotte überzeugte ihn, stattdessen weiterzuarbeiten. „Meine Frau ist meine Heldin und wollte auch, dass ich weitermache. Solange sie das alles so stemmen kann, bin ich Trainer. Ansonsten geht die Gesundheit der Familie immer vor“, sagte der gebürtige Bad Cannstatter im Februar in einem Interview mit dem Kicker. Seine vier Frauen werden auch jetzt ein gewichtiges Wort mitreden, wenn es um die mögliche Anstellung beim künftigen Bundesligisten geht.
Möglicher St.-Pauli-Trainer ist in Belgien sehr beliebt
Blessin selbst wiederum scheint bereits sich im Klaren darüber zu sein. Aus Belgien ist zu hören, dass der bei Saint-Gilloise ausgesprochen beliebte Übungsleiter recht deutlich zu St. Pauli tendiert, zugesagt habe. Zum Trainingsauftakt des belgischen Vizemeisters und Pokalsiegers am Mittwoch erwartet ihn jedenfalls kaum noch jemand.
Bevor er tatsächlich seine Unterschrift unter einen Vertrag mit braun-weißem Briefkopf setzt, müssen allerdings noch einige Klippen umschifft werden. Die formelle Einigung zwischen Blessin und dem Kiezclub dürfte sich fix erledigen lassen.
700.000 Euro: So viel verlangt Royale Union Saint-Gilloise
Die zwischen beiden Vereinen könnte etwas langwieriger werden. Am Montag sollen die Gespräche aufgenommen worden sein. St. Pauli ist an einer schnellen Lösung interessiert und nach dem Verkauf von Ex-Cheftrainer Hürzeler (31) zum Premier-League-Club Brighton & Hove Albion sowie den voraussichtlichen Wechsel für mindestens 1,5 Millionen Euro von Toptalent Eric da Silva Moreira (18) zu Nottingham Forest auch fluide, um die nach Abendblatt-Informationen bei rund 700.000 Euro liegende Ablösesumme zu bezahlen.
Wie üblich schauen dann noch Juristen und Steuerexperten über das umfassende Vertragswerk. Läuft alles wie gewünscht, könnte mit einer Vollzugsmeldung zum Ende dieser Woche zu rechnen sein.
St. Pauli tauscht den Trainer und erzielt dabei Gewinn
Vorerst ist der FC St. Pauli weiter im Kontakt mit anderen Trainerkandidaten, die durchaus bemerkenswerte Akkoladen vorzuweisen haben sollen. Allein schon der Name Blessins genügt aber, um aufzuzeigen, welches Ansehen der Millerntor-Club inzwischen im deutschen Fußball erlangt hat.
Der Wunschkandidat hätte mit Saint-Gilloise kommende Saison die Chance, sich für die Champions League zu qualifizieren, wäre mit seinem Team mindestens in der Gruppenphase der Europa League gesetzt. Stattdessen präferiert der frühere Mittelstürmer einen wirtschaftlich mit vergleichsweise geringen Mitteln ausgestatteten Bundesligisten, für den es zunächst nur um den Klassenerhalt gehen wird. St. Pauli würde im Fall einer Blessin-Verpflichtung zudem der Coup gelingen, zwei Trainer auszutauschen, zwischen deren Qualität keine offenkundigen Welten liegen, und dabei einen deutlichen Gewinn zu erwirtschaften.
Blessin ist sehr von der Red-Bull-Schule geprägt
In puncto Erfahrung hat der ehrgeizige Familienmensch Blessin dem detailversessenen Erfolgsmenschen Hürzeler sogar etwas voraus. Taktisch unterscheiden sich die beiden darin, dass der mögliche Neue stark von der RB-Schule geprägt ist. Blessin arbeitete von 2012 bis 2020 in Leipzig, ist Verfechter des Gegenpressings.
„Seine Taktik, die Art seines Fußballs, hat in Belgien viele beeindruckt“, sagt Valerie Van Avermaet von der Tageszeitung Nieuwsblad. Blessin sei zudem ein „People Manager“, jemand also, der einzelne Charaktere gut zu einer funktionierenden Mannschaft zusammenfügen kann. „Und er ist ein richtig netter Kerl, die Spieler mochten ihn sehr“, sagt Van Avermaet.
Markus Pflanz könnte Co-Trainer beim FC St. Pauli werden
Ein gutes Verhältnis pflegt Blessin auch nach wie vor zu seinem ehemaligen Co-Trainer Markus Pflanz, der ihm bei KV Oostende zwei Jahre assistierte. Er hätte den 48-Jährigen gern mit nach Saint-Gilloise geholt, doch die Brüsseler wollen nicht, dass Trainer ihren eigenen Stab in den Club bringen und dieses Personal und Wissen im Fall eines Abschieds wieder mit sich nehmen.
Pflanz hatte zuletzt den VfR Aalen in der Regionalliga Südwest übernommen, konnte den Abstieg nicht mehr verhindern. Der Fuldaer hat gerade seinen Fußballlehrer-Schein gemacht, hätte Zeit und steht dem Vernehmen nach einem Engagement bei St. Pauli offen gegenüber. Er sollte sein Telefon in den kommenden Tagen also besser nicht abstellen.
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Der Kiezhelden-Spendenbeirat, paritätisch aus dem Verein und der Fanszene besetzt, hat 75.000 Euro an 18 gemeinnützige Projekte ausgeschüttet.