Hamburg. Top-Teilnehmerfeld, neues Stadion, bestes Wetter. Der Rothenbaum bietet viel, dennoch fehlen die Fans. Ein Stimmungsbericht.
Das Daumendrücken hilft nichts, sein Held ist chancenlos: Mit 3:6 und 1:6 unterliegt der Brite Daniel Evans (30/Nr. 34 der Weltrangliste) in seinem Erstrundenmatch am Rothenbaum gegen den amtierenden ATP-Weltmeister Stefanos Tsitsipas (22/Nr. 6) aus Griechenland. Die Trauer bei Adam Baird hält sich dennoch in Grenzen. Zu übermächtig sind die Glücksgefühle, die den Evans-Fan durch den Mittwoch tragen. „Ich hatte sowieso nicht damit gerechnet, dass Daniel gegen Tsitsipas gewinnt. Dass ich live dabei sein konnte, ist für mich einfach unglaublich, egal wie es ausgegangen ist“, sagt er.
Adam Baird (36) ist Schotte, und er sitzt wegen multipler Lähmungen im Rollstuhl. Was ihn nicht daran hindert, in Begleitung seiner Eltern Sportveranstaltungen zu besuchen – sofern sie stattfinden. Der Corona-Lockdown hatte den Tennis- und Fußballfanatiker schwer getroffen. „Normalerweise sind mein Mann und ich mit Adam im Sommer in ganz Europa auf Sportevents unterwegs. Corona hat ihm sehr zu schaffen gemacht, er war fast depressiv, weil wir nicht rauskonnten“, sagt Adams Mutter Jane Baird.
Sicherheit und Gesundheit der Teilnehmer und Zuschauer stehen über allem anderen
Als sie hörte, dass das Turnier am Rothenbaum, das sie bis dato noch nie besucht hatten, mit Zuschauern ausgetragen wird, rief sie kurzerhand bei der Hotline an, bestellte Tickets für Dienstag und Mittwoch, buchte Flüge und reiste am Montagabend aus Edinburgh an. Und obwohl ihr Sohn ob seiner Handicaps als hochgradiger Risikopatient gilt, fühlen sich die Bairds in Hamburg unbeschwert. „Ich mache mir gar keine Sorgen um die Gesundheit. Mein Gefühl ist, dass die Deutschen sehr effizient mit dem Thema Corona umgehen und mit ihrem Hygienekonzept an alles gedacht haben. Sicherer als hier geht es nicht“, sagt Adam.
Sandra Reichel hört derlei Lob gern, schließlich hat sie als Turnierdirektorin schon früh die Devise ausgegeben, dass Sicherheit und Gesundheit der Teilnehmer und Zuschauer über allem anderen stehen. Wer dieser Tage über die für zehn Millionen Euro runderneute Anlage an der Hallerstraße spaziert, kann ihre Worte nachvollziehen. Tatsächlich leidet der optische Eindruck des aufgehübschten Center Courts unter den zur Covid-19-Eindämmung notwendigen Maßnahmen. Die Hunderte Meter langen Absperrgitter vor dem Haupteingang und die mit dunklen Plastikplanen abgehängten Bereiche, die in normalen Jahren für den Publikumsverkehr freigegeben sind, versprühen den Charme einer Großbaustelle. Aber all das ist notwendig, um die behördlichen Vorschriften einzuhalten.
Auf der Anlage herrscht Maskenpflicht
Tatsächlich dürfte die größte Gefahr, sich als Tennisfan dieser Tage mit Corona zu infizieren, auf dem An- und Abfahrtsweg lauern. Auf der Anlage herrscht, außer auf den Sitzplätzen im Center Court, Maskenpflicht. 2300 der gut 10.000 Sitze dürfen täglich belegt werden; alle anderen sind mit Kabelbindern unbenutzbar gemacht. Pro Reihe darf jeder dritte Klappsitz benutzt werden, und das auch nur in jeder zweiten Reihe. Desinfektionsmittel ist auf der ganzen Anlage vorhanden, es gibt ein Wegeleitsystem und zu Stoßzeiten sogar unterschiedliche Einlasszeiten.
Das Problem in den ersten Tagen war, dass es keine Stoßzeiten gab. 1500 Besucher waren es am Sonntag zur offiziellen Eröffnung, 800 am Montag, 1300 am Dienstag und 1300 am Mittwoch – und das bei herrlichem Spätsommerwetter und dem besten Teilnehmerfeld seit 2008. Auch wenn zur Wahrheit gehört, dass der größte Teil der Spieler trotzdem nur absoluten Insidern bekannt ist, sind das ernüchternde Zahlen. Auf der Suche nach Gründen muss sicherlich die Preiserhöhung im Vergleich zu 2019 angeführt werden; das günstigste Ticket am Mittwoch kostete 49, das teuerste 125 Euro. Man habe damit dem Umstand Rechnung tragen wollen, dass der Komfort im Stadion deutlich erhöht worden sei, sagt Sandra Reichel. „Im internationalen Vergleich liegen wir mit den Preisen klar unter dem Durchschnitt.“
Rat an die Tennisfans
Sie selbst, sagt die Österreicherin, sei über die geringe Auslastung auch kaum überrascht. „Ich kann verstehen, dass die Menschen noch vorsichtig sind. Umso wichtiger ist, dass wir alles tun, um die größtmögliche Sicherheit zu bieten.“ Um sich an die neuen Umstände zu gewöhnen, sei eine schrittweise Erhöhung der Besucherzahlen – und für Freitag und Sonnabend sind die Eintrittskarten tatsächlich so gut wie ausverkauft – für ihr Team sogar förderlich.
Menschen wie Christina, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, raten allen Tennisfans, ihre Zurückhaltung abzulegen. „Ich komme seit einigen Jahren her, weil ich Tennis liebe und die Atmosphäre klasse finde“, sagt sie. Die neue Anlage sei „mutig bunt“, aber sehr ansprechend gestaltet. „Und was die Sicherheit und Hygiene angeht, kann ich nur sagen: Mehr geht nicht.“
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Den letzten Teil des Satzes würde Olly Wünsche, Sprecher der Speisenwerft, nicht unterschreiben. Aber mit dem Geschäft auf der Anlage, wo das Cateringunternehmen sowohl im VIP- und Spielerbereich als auch per Foodtruck vertreten ist, sei man dennoch zufrieden. Was sicherlich auch daran liegt, dass das Angebot an Verpflegungsanbietern ausgedünnt ist und die Preise auch hier stark angezogen haben. Currywurst und Pommes acht Euro, 0,33 Liter Softdrink (Alkoholausschank ist verboten) 3,50 bis vier Euro – in Corona-Zeiten muss jeder sehen, wie er seine Verluste minimiert.
Adam Baird dagegen fühlt sich nach Monaten des Darbens wieder wie ein Gewinner. „Am Anfang hatte ich Angst vor Corona. Jetzt habe ich mehr Sorge davor, welche psychischen Probleme durch Corona entstehen. Deshalb freue ich mich, dass Hamburg zeigt, wie der Weg in die neue Normalität aussehen kann.“