Hamburg. Vor 60 Jahren gewann Uwe Seeler seine einzige deutsche Meisterschaft. Die Mannschaft war eine verschworene Gemeinschaft.

Wie nimmt man Fußballern vor einem großen Finale die Nervosität? Zum Beispiel mit einer ungewöhnlichen Spaßeinheit. Vor den Toren Wiesbadens stand für die Spieler des HSV eine Mannschaftsmeisterschaft im Vierkampf auf dem Programm mit den vier Disziplinen Fußballtennis, Schießen mit dem Luftgewehr, Minigolf und Kegeln. „Es wurde nicht schlecht geschossen. Trainer Günter Mahlmann erzielte mit sechs Schuss 53 von 60 möglichen Ringen“, berichtete Abendblatt-Reporter Jupp Wolff in der Ausgabe vom 25. Juni 1960, dem Tag des mit Spannung erwarteten Endspiels um die deutsche Meisterschaft. Der sonst so treffsichere Uwe Seeler brachte es nur auf 47 Ringe.

Bereits am Donnerstag war der HSV-Tross mit dem Trans-Europ-Express (TEE) „Helvetia“ aus Hamburg angereist und hatte sich im noblen Wiesbadener Hotel Schwarzer Bock einquartiert. „Das Hotel hatte uns einen Trainingsplatz in der Nähe organisiert, einmal am Tag wurde dort leicht trainiert. Ansonsten gingen wir viel spazieren“, erinnert sich der damalige HSV-Kapitän und Mittelläufer Jochen Meinke, der im Oktober seinen 90. Geburtstag feiert. Diese Gänge nutzte Trainer Günter Mahlmann für etliche Vier-Augen-Gespräche. „Das hat Mahlmann richtig gut gemacht“, sagt Meinke, „er hat jeden absolut auf das Finale fokussiert.“

Starker Zusammenhalt beim HSV

Vor dem Duell zwischen dem HSV und dem 1. FC Köln waren die Rollen klar verteilt. Die Hamburger hatten es zwar 1957 und 1958 bis ins Endspiel geschafft, jedoch beide Male klare Niederlagen (1:4 gegen Dortmund, 0:3 gegen Schalke) kassiert und galten deshalb nur als Außenseiter. „Die meisten FC-Spieler standen ja in der deutschen Nationalmannschaft“, weiß Rechtsaußen Klaus Neisner (84) noch. Wie ein Karl-Heinz Schnellinger oder die 54er-Weltmeister Helmut Rahn und Hans Schäfer.

Die Vorteile des HSV? Erstens die Jugend (acht Spieler nicht älter als 25) bei der zu erwartenden Hitze (35 Grad) im Frankfurter Waldstadion. Zweitens der Zusammenhalt. „Wir waren eine verschworene Gemeinschaft“, sagt Torwart Horst Schnoor (86), der von Uwe Seeler bestätigt wird: „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mal längere Zeit Zoff hatten, so etwas gab es bei uns nicht“, bestätigt Seeler, „und wenn ich mal gemeckert habe, haben Jochen Meinke und mein Bruder Dieter immer gesagt: Halt den Mund, geh nach vorne und schieße ein Tor, dann wird alles gut.“

Elf „Fußball-Hamburger“

Dass die oft erzählte Geschichte mit den elf Hamburgern, die nach 32 Jahren endlich wieder die Meisterschaft in die Hansestadt holen sollten, nicht ganz zutrifft– der gebürtige Berliner Klaus Neisner kam erst im Alter von acht Jahren nach Hamburg, Klaus Stürmer wurde in Glinde geboren: geschenkt. Als elf „Fußball-Hamburger“, von denen sieben beim HSV aufwuchsen, kann man die Mitglieder der Mannschaft von 1960 allemal bezeichnen. „In den Tagen vor dem Finale herrschte eine nie erlebte Euphorie“, sagt Schnoor. „Ging man durch die Hamburger Innenstadt, hingen in den Schaufenstern HSV-Fahnen und Fotos von uns Spielern, überall wurde uns Glück für das Köln-Spiel gewünscht.“

Oben (v. l.): Schatzmeister Dr. Karl Mechlen, Klaus Neisner, Klaus Stürmer, Horst Dehn, Jürgen Werner, Jochen Meinke, Peter Wulf (ohne Einsatz im Finale), Dieter Seeler, Uwe Seeler, Charly Dörfel, Trainer Günter Mahlmann. Unten (v. l.): Erwin Piechowiak, Horst Schnoor, Gerd Krug.
Oben (v. l.): Schatzmeister Dr. Karl Mechlen, Klaus Neisner, Klaus Stürmer, Horst Dehn, Jürgen Werner, Jochen Meinke, Peter Wulf (ohne Einsatz im Finale), Dieter Seeler, Uwe Seeler, Charly Dörfel, Trainer Günter Mahlmann. Unten (v. l.): Erwin Piechowiak, Horst Schnoor, Gerd Krug. © Metelmann | Unbekannt

7000 bis 10.000 (die Angaben variieren ) der 70.000 Stadionbesucher sollen HSV-Fans gewesen sein. Nach dem Anpfiff um 17 Uhr blieb die Partie lange ausgeglichen, es entwickelte sich ein erbitterter Kampf, in dem alle fünf Treffer nach der Pause fielen.

Köln baute am Ende merklich ab

Den Rückstand durch Christian Breuer (53.) egalisierte Uwe Seeler nach Wiederanpfiff (53.). Gert „Charly“ Dörfel, dem die 2:1-Führung gelang (75.), war damals erst 21 Jahre jung und galt als frech. Und diese Unbekümmertheit bewahrte sich der Linksaußen auch im Endspiel. „Ich habe ja immer mit meinen Gegenspielern gesprochen, das war gegen Köln nicht anders, teilweise auf Englisch. Georg Stollenwerk hat das aber gut vertragen“, grinst Dörfel. „Bis ich mal einen Steilpass bekam. Da habe ich zu Georg gesagt: Du, jetzt muss ich aber weiter ...“

Eines der ganz seltenen Farbfotos vom Finale 1960. Heute unvorstellbar: Nach einem HSV-Tor stürmten die Fotografen auf den Platz.
Eines der ganz seltenen Farbfotos vom Finale 1960. Heute unvorstellbar: Nach einem HSV-Tor stürmten die Fotografen auf den Platz. © Metelmann | Unbekannt

Auf der Tribüne zitterten die mitgereisten Frauen der HSV-Spieler mit. „Ich saß neben Erika Meinke, und der habe ich so eine Viertelstunde vor Schluss gesagt: Wenn unsere Männer tatsächlich Meister werden, dann werde ich mich hemmungslos betrinken – und dann in einer Hecke übernachten“, erinnert sich Minchen Piechowiak, die Gattin von Erwin. Doch Köln schlug zurück, kam durch Christian Müller (86.) zum 2:2, ehe Uwe Seeler das 3:2-Siegtor gelang (88.). „Am Ende haben die Kölner zum Schiedsrichter gesagt: Pfeifen Sie ab, das wird nichts mehr mit uns“, beschrieb der 2011 verstorbene Gerd Krug einst die Schlussminuten. „Die Gluthitze dürfte uns geholfen haben, denn Köln baute am Ende doch merklich ab“, sagt Meinke.

Hunderte HSV-siegestrunkene Fans stürmten das Spielfeld

Noch heute erinnert sich Seeler an die Tumulte nach dem Abpfiff: Hunderte HSV-siegestrunkene Fans stürmten das Spielfeld, einige trugen ihn auf den Schultern vom Rasen. Erst in der Kabine konnten sich alle Spieler in die Arme fallen. „Es gab aber auch einmal einen stillen Punkt für mich“, sagt Seeler, „es war nicht selbstverständlich für mich, was geschehen war. Ich habe mich beim lieben Gott bedankt, dass ich, der ja nicht gerade aus einem reichen Elternhaus stammte, das alles miterleben durfte. Das war ein unglaubliches Glücksgefühl.“ Und auch Verteidiger Erwin Piechowiak (83) betont noch heute: „Keine Frage, für mich war diese Meisterschaft der größte Tag als Fußballer.“

Uwe Seeler wurde auf Schultern vom Platz getragen.
Uwe Seeler wurde auf Schultern vom Platz getragen. © Kaiser/Witters | Unbekannt

Was kaum noch einer weiß: Die Siegerehrung fand zum ersten (und zum letzten) Mal nicht unmittelbar nach Spielschluss auf dem Platz statt, sondern im vom Deutschen Fußball-Bund angemieteten Hotel Frankfurter Hof. Der Hintergrund: Ein Jahr davor hatte es nach dem Finale zwischen Eintracht Frankfurt und Kickers Offenbach (5:3 n. V.) große Krawalle gegeben. Die Spielerfrauen durften bei der Gala nicht dabei sei, mussten im Schwarzen Bock auf ihre Liebsten warten.

Im Mannschaftsquartier ging es hoch her

Zurück im Mannschaftsquartier wurde der Titel – wie von Minchen Piechowiak angekündigt – endlich ordentlich gefeiert. „Es ging wirklich hoch her, der Alkohol floss in Strömen, es war fröhlich und laut“, weiß Ilka Seeler noch. „Einzig Jupp Posipal, der als Betreuer und vor allem als gute Seele noch dabei war, hatte Probleme. Er konnte nichts trinken, denn er hatte hartnäckigen Schluckauf ...“ Und wie ging die Story mit Minchen und der Hecke aus? „Mit dem Betrinken hat es geklappt, aber ich habe ein, zwei Stunden im Hotelbett geschlafen, dann ging es zum Flughafen.“

Massen auch am Dammtor-Bahnhof bei der HSV-Ankunft.
Massen auch am Dammtor-Bahnhof bei der HSV-Ankunft. © Kaiser/Witters | Unbekannt

Kurios: Am frühen Morgen mussten die Spielerfrauen per Flieger zurück nach Hamburg, während die Spieler erneut in den TEE „Helvetia“ stiegen. Abendblatt-Reporter Rudolf Weschinsky durfte mitfahren und schilderte, wie gesittet es trotz des Überraschungserfolgs zuging: „Beim Mittagessen – es gab Ochsenschwanzsuppe, Schnitzel und Pfirsich Melba – gab Trainer Mahlmann der Stewardess Order: Die Mannschaft trinkt nur Limonade!“ Als Dieter Seeler provozierend ankündigte, er würde sich jetzt an der Zug-Bar nach einem Whisky umsehen, „nahm ihn Mahlmann beim Genick wie ein Kaninchen und drückte ihn in seinen Sessel zurück“.

Wie Helden nach einer großen Schlacht wurden die HSV-Spieler im Stadion gefeiert

Nach der Ankunft um 17.58 Uhr im Dammtor-Bahnhof (der Hauptzug war bereits in Lüneburg abgekoppelt worden) kam es zu Jubelszenen, wie sie Hamburg noch nicht gesehen hatte. Rund 100.000 Menschen wollten den deutschen Meister feiern, davon alleine 30.000 Fans im alten Stadion am Rothenbaum. Mit zehn geschmückten VW Käfer, begleitet von zehn Polizeipferden, bahnte sich die Mannschaft im Schneckentempo den Weg. „Schon die Rückfahrt durch Norddeutschland war ein Triumphzug“, schwelgt Meinke. „Menschenmengen standen an den Bahnhöfen. Doch der Empfang war noch mal eine Steigerung. Ganz Hamburg schien auf den Beinen zu sein. Mit Worten kann man das nicht beschreiben.“

Diekmeier: „Der HSV gehört in die Erste Liga“

Wie Helden nach einer großen Schlacht seien die HSV-Spieler im Stadion gefeiert worden, schilderte das Abendblatt die Feier: „Wie ein Donnerschlag wälzte sich das ,Hurra‘ über die Stadt fort, bis nach Altona, Eilbek und Eimsbüttel.“ Gegen 20.30 Uhr folgte noch ein Empfang durch den Senat im Rathaus, Bürgermeister Edgar Engelhard ehrte die Meister mit der großen Sportplakette in Bronze. Im Ratsweinkeller klang der Abend aus. Meinke: „Viele von uns waren geschafft. Mir taten die Schultern weh vom vielen Klopfen der Fans.“

Siegprämie fiel bescheiden aus

Wenn es heute um glorreiche Zeiten des HSV geht, wird häufig der Sieg im Landesmeister-Pokal (heute Champions League) 1983 gegen Juventus Turin herangezogen. Doch es war der Erfolg in Frankfurt, der den Weltruhm des Clubs begründete. „Durch dieses 3:2 gegen Köln ist der HSV in die internationale Klasse aufgestiegen“, bestätigt Dörfel. Die Siegprämie fiel im Vergleich dazu bescheiden aus. Laut Verbandsstatuten war eine Zahlung von netto 1000 Mark erlaubt. Dass ein paar Scheine mehr in die Taschen der Spieler wanderten, gilt als sicher. Auch wenn sich niemand an die genaue Summe erinnern kann ...

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Und Uwe Seeler, der strahlende Sieger von damals, ohne „den der HSV nie Meister geworden wäre“ (Neisner)? Der erschien am Montag zur Arbeit in der Spedition Schier, Otten und Co. „Mein Chef empfing mich freudig, klopfte mir auf die Schulter und sagte: So, jetzt aber an die Arbeit.“ Der Alltag kehrte schnell wieder ein nach der einzigen deutschen Meisterschaft, die Seeler in seiner großen Karriere erringen konnte. „Uwe hätte mir ruhig einen Meistertitel mehr schenken können“, sagt seine Frau Ilka, „weil es doch so schön war.“