Hamburg. Ex-HSV-Trainer bewertet nach den ersten Spielen die Aufstiegschancen der vermeintlichen Favoriten – inklusive des FC St. Pauli.
Mit Theorie und Praxis ist das im Fußball oft so eine Sache. Das größte Problem: Sie passen häufig nicht zusammen. Oder in der Tinder-Sprache: Es gibt zu selten ein Match. Beispiel gefällig? Wer erahnen möchte, wer am Saisonende aus der Zweiten Liga aufsteigt, der kann sich auf einer der zahlreichen Wettportale die Quoten anschauen und sich dann seine eigenen Gedanken machen. Die theoretische Tabellenspitze der Aufstiegsfavoriten bei Bet365 lautet: 1. Schalke (Quote 4,0), 2. Werder (4,5), 3. HSV (6,0) und 4. Düsseldorf (8,0). Die praktische Tabellenspitze der Zweiten Liga nach vier Spieltagen lautet: 1. Regensburg, 2. Dresden, 3. Paderborn und 4. Karlsruhe.
HSV-Trainer Tim Walter und St. Paulis Coach Timo Schultz wetten nicht. Dürfen sie auch nicht. Aber beide wissen, dass diese Divergenz zwischen Theorie und Praxis genau das ist, was die Zweite Liga ausmacht. „Jeder kann jeden schlagen“, stellte Walter nach dem wilden 2:2 seines HSV gegen Darmstadt 98 am Sonntag fest. „Man kann nicht sagen, wer der Große und wer der Kleine ist.“
Schwergewichte der Zweiten Liga im Tabellenmittelfeld
Eine Feststellung, die nach nur vier Spielen vor allem für die mutmaßlichen Großen zum Problem werden könnte. Denn die Schwergewichte der Liga (HSV, Werder und Schalke) befinden sich nach dem Saisonstart auf Augenhöhe, allerdings statt an der Spitze im Niemandsland des Tabellenmittelfelds. Walters korrekte Schlussfolgerung: „Diese Zweite Liga ist so was von ausgeglichen.“
Ein Phänomen, dass auch Ex-HSV-Trainer Dieter Hecking beobachtet hat. Seit etwas mehr als einem Jahr zieht der frühere Coach als Sportvorstand beim 1. FC Nürnberg die Fäden und darf sich darüber freuen, dass auch der Club bislang kein Saisonspiel verloren hat.
Ex-HSV-Trainer Hecking zweifelt an Qualität
„Dass die Liga immer unberechenbarer wird, liegt auch daran, dass sie sich immer mehr angleicht. Vom Niveau her, aber auch von den Möglichkeiten für die Vereine. Auch die größeren Vereine tun sich schwer, Spieler zu bekommen, die den Unterschied ausmachen“, sagt Hecking, der im dritten Jahr erfährt, wie schwer es für die vermeintlich großen Clubs ist, sich in dieser ausgeglichenen Zweiten Liga durchzusetzen. „Für die Fans ist das sicherlich eine schöne Entwicklung: Es bleibt extrem unterhaltsam und spannend.“
Der Unterhaltungsfaktor rührt auch daher, dass es immer wieder Überraschungen gibt, die vorher kaum ein Experte auf der Rechnung hatte. Im ersten HSV-Jahr in der Zweiten Liga (2018/19) hatte niemand mit Paderborn und nur wenige mit Union Berlin gerechnet. Im Jahr darauf (2019/20), als Hecking beim HSV arbeitete, hatte kaum einer die Erfolge von Arminia Bielefeld und vom FC Heidenheim prognostiziert. Und in der vergangenen Saison gab es mit dem VfL Bochum, Greuther Fürth und Holstein Kiel gleich drei Überraschungsteams an der Spitze.
„Ob die Qualität des Fußballs so gut ist, steht auf einem anderen Blatt Papier“, sagt Hecking. Und trotzdem: „Die Zweite Liga ist die attraktivste Zweite Liga.“
St. Pauli: Lob und "Mahnung" von Hecking
Kurioserweise wollen trotzdem viele Clubs diese attraktive Liga lieber heute als morgen verlassen. Schalke und Bremen natürlich. Der HSV. Und auch der FC St. Pauli kann sich trotz der ersten Saisonniederlage in Paderborn nicht mehr gegen den Status als Geheimfavorit wehren.
„Der FC St. Pauli hat eine sehr gute Mischung. Der Transfer von Marcel Hartel könnte ein wichtiges Mosaiksteinchen sein“, glaubt Hecking – und lobt: „St. Pauli hat den Kader, um oben dabei zu bleiben. Da haben Andreas Bornemann und Timo Schultz richtig gute Arbeit geleistet. Aber auch St. Pauli muss nun lernen, mit der Erwartungshaltung umzugehen, dass sie immer häufiger als möglicher Mit-Aufstiegsfavorit genannt werden.“
Einer von St. Paulis großen Trümpfen: Die Mannschaft sei eingespielt, habe zudem die Idee des Trainers verinnerlicht. „Eingespielt zu sein ist ein Vorteil in dieser Zweiten Liga. Das gilt auch für die Trainerposition“, sagt Hecking – und verweist auf die Beispiele an der Tabellenspitze mit Regensburg und Dresden. Und auch er hat trotz einer enttäuschenden Saison an Nürnberg-Trainer Robert Klauß festgehalten – und wird nun belohnt. So hat der Club nur eines der vergangenen 15 Zweitligaspiele verloren: gegen den HSV.
HSV für Hecking keine Übermannschaft
Doch anders als in den vergangenen Jahren hält Hecking den HSV in dieser Spielzeit nicht für eine der Übermannschaften dieser Zweiten Liga: „Natürlich kann der HSV oben reinrutschen. Aber der Top-Favorit, der der HSV in den vergangenen Jahren war, ist er in diesem Jahr nicht.“ So befinde sich der HSV – ähnlich wie Schalke 04 oder Werder Bremen – noch immer im Findungsprozess: „Man wird sich auf die neue Spielidee von Tim Walter einlassen müssen. Das kann einen guten Verlauf nehmen, aber das kann auch noch ein wenig dauern.“
Geduld ist eine Tugend. Zumindest in der Theorie. In der Praxis gibt es davon an den Traditionsstandorten im Fußball meist zu wenig. „Die Schwergewichte sind unter der Lupe der Öffentlichkeit, das würde ich aber nie als negativ bewerten. Das kann im Optimalfall auch eine Euphorie auslösen“, sagt Hecking. „Allerdings ist auffällig, dass die Ungeduld bei diesen Clubs größer ist.“
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Doch wer steigt denn nun auf? Auch Dieter Hecking weiß es nicht. Er ahnt aber zumindest, wer nicht aufsteigt: „Ich habe schon im Vorfeld dieser Spielzeit gesagt, dass ich nicht glaube, dass von den drei Favoriten alle drei auch aufsteigen werden.“ Heckings Fazit: „Alles ist in dieser Saison möglich.“ Wer will noch mal? Wer hat noch nicht?