Hamburg. Das Gericht lehnt die Eröffnung des Jatta-Verfahrens ab und tadelt die Staatsanwaltschaft Hamburg – doch die hält weiter dagegen.

Acht Seiten lang ist das Dokument, das dem HSV, dem Fußballer Bakery Jatta und seinem Anwalt Thomas Bliwier am frühen Dienstagmorgen zugestellt wurde. Es trägt die schnöde Überschrift „Beschluss“ und dürfte – das kann man wohl so sagen – Jattas Leben für immer verändern. Der entscheidende Satz steht bereits auf der ersten Seite: Das Amtsgericht Altona hat die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den HSV-Profi abgelehnt.

In anderen Worten: Bakery Jatta, dem von der Hamburger Staatsanwaltschaft eine Erschleichung von Aufenthaltstiteln vorgeworfen wurde, ist unschuldig. Und zwar offiziell.

Gericht: HSV-Profi Bakery Jatta ist unschuldig

Als Gründe führt das Amtsgericht in seinem Beschluss, der dem Abendblatt vorliegt, auf, dass kein hinreichender Tatverdacht vorliegt. Demnach wäre Richter Volker Stegmann im Falle eines Verfahrens mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Freispruch Jattas ausgegangen.

„Das Ermittlungsergebnis trägt im vorliegenden Fall die Tatvorwürfe nicht“, heißt es in dem Beschluss. Auch weitere Ermittlungen soll es nicht geben. „Die Anordnung von Nachermittlungen ist nicht veranlasst.“

Ein Urteil, durch das sich Jattas Anwalt Thomas Bliwier in seiner bisherigen Einschätzung bestätigt sieht. „Dieser Gerichtsbeschluss ist eine Blamage für die Staatsanwaltschaft.“ Das Gericht habe bestätigt, dass kein Verdacht für eine Straftat vorliege. Deshalb sei die Staatsanwaltschaft „im Verein mit der ,Bild'-Zeitung in die Schranken gewiesen worden.“

Bakery Jatta: Gericht tadelt Beweise der Staatsanwaltschaft

In der seit August 2019 andauernden Identitätsdebatte, die durch einen Bericht der „Sport Bild“ ausgelöst wurde, hatte die Staatsanwaltschaft Hamburg im Dezember 2021 Anklage gegen Bakery Jatta erhoben, nachdem das Verfahren im Januar 2020 eröffnet worden war.

Der Vorwurf: Der 23 Jahre alte Gambier sei zweieinhalb Jahre älter und heiße tatsächlich Bakary Daffeh. Mit den Daten Jattas habe er sich seine Aufenthaltserlaubnis erschlichen. So soll er sich im Jahr 2015 mit einer Daffeh-E-Mail-Adresse bei den Bremer Behörden angemeldet haben. Vorwürfe, die nun vom Gericht wegen der geringen Beweislast der Staatsanwaltschaft widerlegt wurden.

„Die Staatsanwaltschaft ist jeglichen gerichtsverwertbaren Nachweis einer Geburt des Angeschuldigten am 6.11.1995 schuldig geblieben“, heißt es in dem Beschluss. Denn jenes Datum, der vermeintliche Tag der Geburt Daffehs, stünde „überhaupt nicht sicher und gerichtsverwertbar fest“. Zur Erklärung führt Stegmann weiter aus: „Ist nämlich das Geburtsdatum 6.11.1995 für Daffeh schon nicht durch eindeutige Urkunden (Geburtsregister, ID-Karte, Personalausweis oder Reisepass) hinreichend sicher belegt, erübrigt sich eine weitere Untersuchung etwaiger Personenidentität Daffeh/Jatta.“

Gericht bestätigt Identität von Bakery Jatta

Auch das von der Universität Freiburg erstellte anthropologische Gutachten, wonach Jatta und Daffeh mit „höchster Wahrscheinlichkeit“ dieselbe Person seien, reiche nicht aus. „Weitere Beweismittel, die eine Überführung des Angeschuldigten ermöglichen könnten, liegen nicht vor.“

Zur Erinnerung: Jatta besitzt nach Auswertung der Behörden einen gültigen Reisepass und eine von gambischen Behörden beglaubigte Geburtsurkunde. Beide Dokumente seien für Stegmann „hochrangige
Urkunden“, die Jattas Identität „hinreichend sicher belegen“.

Deshalb kommt Amtsrichter Stegmann zu dem Schluss: „Nach dem Ermittlungsergebnis muss hinreichend sicher davon ausgegangen werden, dass der Angeschuldigte Bakery Jatta heißt und am 6.6.1998 geboren wurde.“

Mit deutlichen Worten äußerte der Amtsrichter zudem Kritik am Vorgehen der Staatsanwaltschaft. „Die Geburtsangabe fußt offensichtlich allein auf unüberprüften und überwiegend unüberprüfbaren Presseberichten (der „Bild“-Zeitung; d. Red.) und Internetrecherchen.“ Dies reiche nicht aus, führte Stegmann aus. Vielmehr hätte die Staatsanwaltschaft als Beweis für ihre Anklage Urkunden, Zeugenaussagen oder unmittelbare Kontaktpersonen Daffehs ausfindig machen müssen. Doch das ist eben nicht der Fall.

Übernahm Jatta die Identität von Daffeh?

Pikant wird es auf Seite fünf des achtseitigen Gerichtsbeschlusses. Demnach könnte sich Jatta vor einigen Jahren in Afrika Gambia als Daffeh ausgewiesen haben und nicht andersherum. Weil er älter sein musste, um die Anforderungen der nigerianischen Liga zu erfüllen. Diese Argumentation hatte Jattas Anwalt Bliwier in seinem Einspruchsschreiben gegen die Anklage aufgeführt.

„Zu Recht weist die Verteidigung darauf hin, dass der Wechsel von Daffeh von dem gambischen Fußballverein Brikama United zu dem nigerianischen Verein Lion FC, der sich laut Transferregister am 1. Juli 2012 vollzogen haben soll, zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem Jatta erst 14 Jahre alt und entsprechend den Reglements der nigerianischen Fußball-Liga, die für die Teilnahme ein Mindestalter von 16 Jahren voraussetzen, für den Spielbetrieb nicht tauglich war“, schreibt Stegmann.

Demnach könnte Jatta die Identität des damals 16 Jahre alten Daffehs übernommen haben. Stegmann: „In Fortführung dieses Gedankens hätte wahrscheinlich auch der 13-jährige Jatta sich kaum 2011 für den gambischen Erstligisten Brikama United registrieren lassen können.“

Im Kern bedeutet das für den Amtsrichter, dass „in einer Hauptverhandlung allenfalls der Nachweis einer Personenidentität Jatta/Daffeh möglich wäre, was für eine Überführung im Sinne der Anklage nicht ausreicht“.

Bakery Jatta: Staatsanwaltschaft sieht Verfahrensfehler

Die Staatsanwaltschaft wollte sich am Dienstag auf Anfrage nicht zu der deutlichen Kritik des Gerichts äußern. Es deutet sich aber an, dass die jahrelange Diskussion um die Identität von Bakery Jatta erneut in die Verlängerung geht. Denn die Staatsanwaltschaft spricht nun von einem Gesetzesverstoß durch das Gericht – und prüft einen Widerspruch gegen die Entscheidung.

„Die Verfahrensakte liegt hier noch nicht wieder vor“, sagte die Oberstaatsanwältin Mia Sperling-Karstens dem Abendblatt. Unabhängig vom Inhalt des Beschlusses sei die Staatsanwaltschaft aber „irritiert darüber, dass ihr die Anklageerwiderung der Verteidigung bislang nicht mit der Bitte um Stellungnahme zugeleitet wurde“. Die Strafprozessordnung sehe dies aber eindeutig vor.

Das Gericht habe der Staatsanwaltschaft also nicht die Möglichkeit gegeben, ihren Antrag auf eine Anklageerhebung zu verteidigen, nachdem Jattas Anwalt Thomas Bliwier dagegen Einspruch erhoben hatte. „Ohne dieses zwingende rechtsstaatliche Erfordernis hätte eine Entscheidung in der Sache eigentlich nicht ergehen dürfen“, sagt Sperling-Karstens. „Die Staatsanwaltschaft wird daher umgehend entsprechende Rechtsmittel prüfen.“

Das zuständige Amtsgericht in Altona hat sich bislang noch nicht zu dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft geäußert. Jatta-Anwalt Bliwier hält diesen Vorwurf jedoch für „kompletten Unsinn“.

HSV äußert sich zum Fall Bakery Jatta

Nicht nur Jatta, sondern auch den HSV erleichterte dieser richterliche Beschluss. Der Club prüft das Schreiben nun mit seinen Juristen. „Wir haben die Entscheidung des Gerichts natürlich positiv aufgenommen. Wir hoffen, dass diese Akte nun endgültig geschlossen ist“, sagte Sportvorstand Jonas Boldt. „Baka war, ist und bleibt für uns ein voll integrierter Mitmensch und kann seine gute Gesamtentwicklung als unser Spieler hoffentlich fortsetzen.“

Am Sonnabend hat Jatta den nächsten wichtigen Termin. Nicht vor Gericht. Sondern auf dem Fußballplatz. Gegen Aue. Gegen den FC Erzgebirge hatte er beim 3:1-Sieg am 10. November 2018 sein erstes Tor als Profifußballer geschossen – und konnte sich damals wohl noch nicht vorstellen, was in den drei Jahren danach folgen würde. Nur eines hat sich in all den Jahren sicher nie geändert: Bakery Jatta ist Bakery Jatta.

Die Chronologie im Fall Bakery Jatta

  • 7. August 2019: Die „Sport Bild“ fragt auf ihrem Titel: „Spielt HSV-Star Jatta mit falscher Identität?“ Der Verdacht: Er heißt in Wahrheit Bakary Daffeh und ist am 6. November 1995 geboren – und nicht am 6. Juni 1998. Der 1. FC Nürnberg legt noch am gleichen Tag Einspruch gegen das 0:4 ein. 8. August 2019: „Bild“ titelt: „Jatta drohen 5 Jahre Haft und die Abschiebung“. 13. August 2019: Das Bezirksamt Hamburg-Mitte bittet Jatta bis zum 23. August um eine Stellungnahme. 15. August 2019: Jatta fliegt mit den HSV-Chefs nach Frankfurt, wo er beim DFB vorsprechen muss. 19. August: 2019: Nach Nürnberg unternimmt auch Bochum juristische Schritte.  25. August: In Karlsruhe wird Jatta ausgepfiffen und rassistisch beleidigt. Auch der KSC legt Einspruch ein.
  • 30. August 2019: Jattas Anwalt Thomas Bliwier (hatte eine Fristverlängerung beantragt) reicht beim Bezirksamt Unterlagen ein, die die Identität Jattas beweisen sollen: einen gültigen Reisepass sowie eine von gambischen Behörden beglaubigte Geburtsurkunde und die eidesstattliche Versicherung eines zuständigen Beamten. 
  • 2. September 2019: Die Ermittlungen des Bezirksamts gegen Jatta werden eingestellt. Daraufhin ziehen die drei Zweitligaclubs ihre Einsprüche zurück.
  • 20. September 2019: „Bild“ berichtet, dass sich Jatta mit einer Daffeh-E-Mail-Adresse 2015 bei den Behörden angemeldet habe.  17. Oktober 2019: Die Bremer Staatsanwaltschaft schließt die Akte Jatta.
  • 8. Januar 2020: Die Staatsanwaltschaft Hamburg eröffnet – was erst später bekannt wird – ein Ermittlungsverfahren, nachdem es einen anonymen Brief der „Gemeinschaft Besorgter Bürger“ mit einer Strafanzeige gegen den HSV, den damaligen Trainer Dieter Hecking und den DFB gegeben hatte. Im Zuge der anschließenden Ermittlungen fallen den Behörden Kontakte Jattas zu Fußballern aus dem Senegal, Gambia und Nigeria auf, die früher auch mit Daffeh in Verbindung gestanden haben sollen. 20. Februar 2020: Jatta äußert sich im Vereinsmagazin „HSV live“ zu den Vorwürfen: „Ich wurde öffentlich an den Pranger gestellt. Aber wofür? Was hatte ich verbrochen? Ich habe mich gefühlt, als wollte man mich wegsperren, mich ins Gefängnis stecken.“ Und: „Zu Hause ist da, wo man Frieden findet. Und ich habe hier meinen Frieden gefunden.“
  • 2. Juli 2020: Unliebsamer Besuch für Jatta in seiner Wohnung: Die Staatsanwaltschaft führt eine Hausdurchsuchung durch. Ihm wird der „Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz“ vorgeworfen. Mehrere elektronische Datenträger Jattas wie ein Handy und ein Laptop werden sichergestellt.
  • 10. Juli 2020: HSV-Ultras vom Fanprojekt „Nordtribüne Hamburg“ fordern ein Ende der Ermittlungen und „die Rück­gabe aller beschlagnahmten Geräte“.
  • 27. Juli 2020: Bliwier bezeichnet die Vorwürfe als „zu Unrecht erhoben“ und erwartet die Einstellung des Verfahrens.
  • 7. Mai 2021: Die Uni Freiburg veröffentlicht ein von der Hamburger Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes Gutachten. Dieses kommt zu dem Ergebnis, dass Jatta und Daffeh mit hoher Wahrscheinlichkeit dieselbe Person seien.
  • 11. August 2021: Bliwier fordert die Behörden auf, endlich auch in Gambia zu ermitteln, wenn man denn weiterhin Verdacht gegen seinen Mandanten hege.
  • 6. Dezember 2021: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Jatta.
  • 8. März 2022: Das Amtsgericht Hamburg-Altona lehnt die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Damit gilt Jatta offiziell als unschuldig.
  • 14. März 2022: Die Staatsanwaltschaft legt Beschwerde gegen den richterlichen Beschluss ein.
  • 6. April 2022: Das Amtsgericht lehnt ein Befangenheitsgesuch der Staatsanwaltschaft gegen Richter Volker Stegmann ab.
  • 8. Juli 2022: Das Hamburger Landgericht lehnt die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ab. Zu einem Verfahren in der Identitätsdebatte wird es somit nicht kommen. Weitere Rechtsmittel sind ausgeschlossen. Jatta ist Jatta.