Hamburg. Hamburgs Bundesliga-Handballer reisen mit einer Siegesserie zum angeschlagenen THW Kiel. Die Keeper beider Teams stehen im Fokus.

Wenn man ketzerisch wäre, könnte man schreiben, dass am Sonntag (15 Uhr/Dyn) 10.285 Handball-Fans in die ausverkaufte Kieler Wunderino Arena kommen, um dick gegen alt spielen zu sehen. Samir Bellahcene wiegt 120 Kilogramm, in Kombination mit seiner Körpergröße kommt der Torhüter des THW Kiel auf einen Body-Mass-Index von 32,9 – Adipositas ersten Grades. Und Johannes Bitter, Torhüter des HSV Hamburg, könnte mit seinen 41 Jahren schon seit geraumer Zeit in Handball-Rente sein.

Um keine ketzerische, sondern eine sportlich zutreffende Beschreibung zu wählen, muss man allerdings betonen, dass beide Keeper nicht ohne Grund beim prestigeträchtigen Nordduell zwischen den Pfosten stehen werden. Bellahcene wirkt trotz seiner Kurven beweglich wie eine Ballerina, Handball-Ikone Stefan Kretzschmar bezeichnete ihn jüngst nicht zu Unrecht als „Modellathleten“.

Und ein Spieler wie Bitter, der aktuell seine 25. Bundesligasaison bestreitet, vermag es mit seiner Erfahrung wohl immer noch am besten selbst einzuschätzen, wann die Zeit für einen Rücktritt gekommen ist. Sein Vertrag jedenfalls läuft noch bis Sommer 2026.

Handball: Bitter sieht Bellahcene als „sehr spannenden Torhütertyp“

„Bellahcene ist ein sehr spannender, besonderer Torhütertyp. Wenn man sich die Statistiken anschaut, hat er schon gute Quoten gezeigt“, lobt HSVH-Keeper Bitter seinen 13 Jahre jüngeren Gegenüber. Der THW hatte den Franzosen erst am 12. September für seinen verletzten Landsmann Vincent Gérard (36) von US Dunkerque verpflichtet. Olympiasieger Gérard, der im Sommer eigentlich als Ersatz des zum dänischen Topclub Aalborg HB abgewanderten Ausnahmekeepers Niklas Landin geholt worden war, fällt nach einer Adduktoren-Operation monatelang aus.

Kiels neuer Torhüter Samir Bellahcene (28) soll den verletzten Vincent Gérard ersetzen.
Kiels neuer Torhüter Samir Bellahcene (28) soll den verletzten Vincent Gérard ersetzen. © imago/Eibner | Marcel von Fehrn

Auch wenn sich Bellahcene im Zusammenspiel mit seinem tschechischen Gespannpartner Tomas Mrkva bisher gut in Kiel einfügte, steckt der amtierende Meister seit Wochen in einer sportlichen Krise. Nach drei Liganiederlagen in Folge ist der THW auf Platz neun abgerutscht, zwei Ränge hinter den HSVH. Zur Krönung schied der Rekordmeister am vergangenen Dienstag in der dritten DHB-Pokalrunde zu Hause gegen den Bundesliga-17. HSG Wetzlar aus.

Selbstverständnis des THW Kiel nicht mehr da?

„Das Selbstverständnis, eine Mannschaft voller Gewinnertypen zu sein, ist nicht von heute auf morgen weg. Trotzdem bestehen eine Saison und Teamentwicklung immer aus verschiedenen Phasen. Deshalb glaube ich, dass es momentan eine Phase ist, in der sie auf ihr Selbstverständnis nicht so zugreifen können, wie sie es in den vergangenen Jahren gewohnt waren“, sagt Bitter, der mit dem HSVH die vergangenen fünf Pflichtspiele gewinnen konnte.

Die Hamburger sind dennoch gewarnt. „Sie werden momentan sehr wachsam sein und alles daransetzen, wieder in die Spur zu kommen. Ich bin mir auch sicher, dass das wieder kippen wird, dafür ist der Kader viel zu stark. Die Frage ist nur, wann das passiert“, sagt Bitter. „Es kann sehr gefährlich sein, in so einer Phase nach Kiel zu fahren. Wenn wir es zulassen, dass sie ins Laufen kommen, werden sie wie Raubtiere über uns herfallen, um ihren Spirit wiederzufinden.“

Abgang von Niklas Landin schmerzte den THW

Einen Grund für die aktuelle Krise an der Förde sieht Bitter im Abgang von Landin. Der zweifache Welthandballer hatte dem THW in der Vergangenheit nicht nur gegen den HSVH häufig zum Sieg geführt. „Es war jedem klar, dass sie die Lücke von Landin nicht schließen können. Er hat ihnen viele Spiele im Alleingang gerettet“, sagt Bitter.

Fest steht bereits, dass im Sommer 2025 der spanische Nationaltorhüter Gonzalo Pérez de Vargas vom FC Barcelona nach Kiel wechselt, bis dahin muss sich Trainer Filip Jicha mit Mrkva, Bellahcene und Gérard begnügen – wobei etliche Handball-Bundesligaclubs den THW auch für diese Torhüter noch beneiden.

Beim HSVH ist man mit dem Gespann Bitter und Jens Vortmann grundsätzlich zufrieden, in den vergangenen Wochen stimmte bei beiden allerdings die Quote nicht mehr. Mit 27,17 Prozent (Bitter) sowie 23,01 Prozent (Vortmann) gehaltener Bälle ist das HSVH-Duo in dieser Saison weit entfernt von der Ligaspitze. Topleute wie Mikael Appelgren (Rhein-Neckar Löwen/36,07 Prozent), Nikola Portner (SC Magdeburg/33,66 Prozent) oder Kevin Møller (SG Flensburg-Handewitt/33,33 Prozent) parieren deutlich besser.

Bitter ist unzufrieden mit seine Quoten

„Ich habe natürlich andere Vorstellungen von meinen Quoten“, sagt Bitter. Die Schuld allein bei den Torhütern zu suchen wäre allerdings falsch. Weil die Abwehr in dieser Saison beim HSVH noch nicht wie gewünscht funktioniert, bekommen die Keeper zu viele Bälle aus der Nahwurfzone auf ihr Tor. Bitter, vor allem ein Spezialist bei Würfen von außen, sagt: „Obwohl wir die vergangenen fünf Spiele alle gewonnen haben, ist es uns kaum gelungen, im Abwehrverbund mit uns Torhütern viele Bälle zu gewinnen. Es gibt unglaublich viele Durchbrüche durch die Mitte, da haben wir Torhüter nur selten eine Chance.“

Auch die bis vor wenigen Wochen personell schwierige Lage sieht Bitter als Grund für die fehlende Stabilität im Deckungszentrum. „Dominik Axmann hat die komplette Vorbereitung gefehlt, zum Saisonstart waren dann beide Kreisläufer teilweise verletzt. Zudem hatten wir in der Vergangenheit in Tobias Schimmelbauer einen Spieler im Kader, der auf vier Positionen decken konnte. Das sind alles Gründe, warum es bisher ein paar Probleme gab“, sagt er. Abfinden dürfe man sich mit der Situation aber nicht, diese Auffassung herrsche auch innerhalb des gesamten Teams.

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Obwohl man Gegner durchaus dazu lenken könne, eher Abschlüsse über außen zu suchen, gibt es beim THW in Nikola Bilyk, Eric Johansson und Harald Reinkind auch Rückraumspieler, die gern aus der Distanz werfen. Auch der neue Spielmacher Elias Ellefsen á Skipagøtu (gesprochen: Schi-pa-gö-tu) von den Färöer-Inseln sucht über Eins-gegen-eins-Situationen, aber auch gern den Durchbruch am Kreis. Aber einfach war es gegen Kiel ja sowieso noch nie.