Hamburg. Der Handball-Profi und Sportvorstand der Füchse Berlin, über die Bundesliga, eigene Ambitionen und die Entwicklung beim HSV Hamburg.

Im deutschen Profihandball gibt es kaum eine Person, die ähnlich viel Selbstvertrauen ausstrahlt wie Stefan Kretzschmar. Angesichts von 421 Bundesligaspielen und 218 Länderspieleinsätzen ist das auch keine Überraschung. Anfang 2020 wurde Kretzschmar (49) Sportvorstand der Füchse Berlin, die unter seiner Leitung zum Titelkandidaten reiften und an diesem Sonntag (18.15 Uhr/Sky) als Tabellenführer der Handball-Bundesliga beim HSV Hamburg (HSVH) gastieren.

Hamburger Abendblatt: Herr Kretzschmar, ist die Handball-Bundesliga in dieser Saison so spannend wie nie zuvor?

Stefan Kretzschmar: Es gab in dieser Saison bisher zwei unterschiedliche Phasen. Zu Beginn kamen extrem hohe Siege von Spitzenmannschaften gegen Teams aus der unteren Tabellenhälfte zustande. Mittlerweile gibt es deutlich mehr Überraschungen, jeder kann jeden schlagen. Man kann überhaupt kein Ergebnis mehr vorhersagen. Deshalb glaube ich tatsächlich, dass es die spannendste Saison seit langer Zeit sein wird.

Dass der Letzte gegen den Ersten gewinnen kann, mussten nun auch ausgerechnet Ihre Füchse bei GWD Minden erfahren…

Auch wenn ich mir das anders gewünscht hätte, sind jetzt zumindest alle Spieler wachgerüttelt. Solche Spiele kommen in dieser Liga einfach vor. Lemgo gewinnt in Kiel, Hamburg schlägt die Rhein-Neckar Löwen, Flensburg verliert in Gummersbach. Für die Fans sind solche Ergebnisse toll. Wenn einem so etwas als Verantwortlicher eines Vereins passiert, ist es dann weniger lustig.

Wird es jemals wieder eine Saison wie zuletzt 2011/12 geben, als der THW Kiel mit 68:0 Punkten Meister wurde?

Das glaube ich nicht. Es ist nicht abzusehen, dass eine Mannschaft wieder derartig dominant durch die Liga geht. Dafür haben sich andere Mannschaften zu sehr weiterentwickelt. Ich gehe davon aus, dass es in Zukunft immer ein Kampf von fünf oder sechs Mannschaften um die Meisterschaft wird.

Sind Flensburg und Kiel schwächer – oder ist der Rest stärker geworden?

Beides. Ganz viele Vereine machen, gemessen an ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten, einen sehr guten Job. In vielen Clubs steckt heute enorm viel Professionalität. Das ist kein Vergleich mehr zu vor 15 Jahren, als der Trainer häufig der Alleinentscheidende war.

Viele Vereine haben sich Know-how dazu geholt, verbessern sich in ihrer Personalpolitik immer mehr. Es ist auch nicht mehr so, dass ausländische Spitzenspieler automatisch nach Kiel oder Flensburg gehen. Auch die beiden Clubs müssen um die Spieler kämpfen. Magdeburg, die Löwen, wir als Füchse und auch die MT Melsungen mit ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten haben aufgeholt.

Sind die Chancen, mit Berlin Meister zu werden, in dieser Saison so groß wie nie zuvor?

Das hoffe ich doch (lacht). Wenn wir uns nicht jedes Jahr ein Stück verbessern, bräuchten wir nicht so hart arbeiten. Wir gehen davon aus, dass wir unsere Mannschaft immer weiter verbessern. Vor zwei Jahren waren wir Vierter, im vergangenen Jahr Dritter – das würde für diese Saison bedeuten, dass wir uns für die Champions League qualifizieren.

Wir machen keinen Hehl daraus, dass wir das erreichen wollen. Trotzdem kann man nicht alles bis ins letzte Detail durchplanen, weil auch unvorhergesehene Dinge wie Verletzungen auftreten können. Ohne Hendrik Pekeler und Sander Sagosen ist die Meisterschaft selbst für eine Mannschaft wie den THW Kiel eine Herkulesaufgabe.

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Glauben Sie, dass die Zweite Liga sportlich näher an die Erste herangerückt ist? Oder sind der HSV Hamburg in der vergangenen und der VfL Gummersbach in dieser Saison keine normalen Aufsteiger?

Hamburg und Gummersbach haben viel Erstligaerfahrung und wissen, worauf es in der Bundesliga ankommt. Beide betreiben außerdem eine sehr gute Personalpolitik, wollen mit jungen Spielern frechen und enthusiastischen Handball spielen.

Die Vereine können es zwar nicht mehr hören, wenn alle sagen, dass sie keine typischen Aufsteiger sind. Trotzdem sind sie keine typischen Aufsteiger (lacht). Ich finde aber nicht, dass die Zweite Liga allgemein besser geworden ist. Außer diesen beiden Mannschaften sehe ich keinen Verein, der in der Bundesliga demnächst ähnlich stark auftrumpfen könnte.

Wie beobachten Sie die sportliche Entwicklung in Hamburg?

Auch in dieser Saison sind sie wieder eine der positiven Überraschungen. Häufig heißt es, dass das zweite Jahr in der Bundesliga das schwerste wird. Dafür machen sie es aber wieder erstaunlich gut, stehen in meinen Augen im gesicherten Mittelfeld. Es ist ein Glücksfall, dass Hamburg wieder da ist. Das wertet die Liga enorm auf.

Ich bewundere Torsten Jansen für seine Arbeit, sich zunächst zu einem unterklassigen Verein zu bekennen und den Weg von der Dritten Liga in die Bundesliga mit viel Leidenschaft, Aufbauarbeit und eigenen Talenten zu gehen. Das ist richtig stark – und ein anderer Weg, als ihn der HSV Handball früher gegangen ist.

Was trauen Sie dem HSVH diese Saison zu?

Wenn ich das Heimspiel gegen die Löwen sehe, bei dem auch viele Fußballfans in der Halle waren, und sie dann vor dieser Kulisse mit 40:37 gewinnen, ist das ein Ausrufezeichen. Ich glaube, dass sie mit dem Abstieg nichts zu tun haben werden – wenngleich es aus psychologischer Sicht Sinn ergibt, immer wieder davor zu warnen. Einen einstelligen Tabellenplatz werden sie auf lange Sicht definitiv, in dieser Saison vielleicht noch nicht ganz erreichen. Das ist aber auch nicht schlimm, dem Verein tut eine kontinuierliche Entwicklung gut.

Welche Vision haben Sie für die Füchse für die nächsten Jahre?

Man kann nicht alles wie auf dem Reißbrett entwerfen, oft funktionieren Ideen nicht. Auch Geld allein ist – wie man an dem einen oder anderen Bundesligaverein sieht – kein Erfolgsgarant. In der Vergangenheit haben auch wir Spieler verpflichtet, die bei uns nicht funktioniert haben. Trotzdem ist es unser Ziel, dauerhaft um die Meisterschaft mitzuspielen. Als Hauptstadtclub wollen wir ein natürliches Verständnis dafür entwickeln, zu den besten Mannschaften in Deutschland zu gehören. Das soll auch nicht nur ein einmaliger Ausreißer sein, sondern wir wollen den Erfolg so gut wie möglich garantieren.

Garantien sind im Profihandball selten…

Wenn wir in einer schwächeren Liga wie in Polen, Spanien oder Ungarn mit unserer Mannschaft spielen würden, könnten wir jedes Jahr fest mit der Champions League planen. In Deutschland geht das nicht. Hier muss man an jedem Spieltag voll abliefern – und als Verein auch die Spieler finden, die genau das wollen. Für einen Spieler, der sich zwar noch auf dem Höhepunkt seiner Karriere befindet, aber schon etwas älter ist, ist die Motivation, zu uns zu kommen, relativ gering. So ein Spieler wird wahrscheinlich eher nach Kielce in Polen oder nach Veszprém in Ungarn gehen, wo die Liga nicht so stark und die Champions League die Motivation ist. Es gibt aber auch junge Topspieler, die genau diesen Wettkampf und diese Stimmung in Deutschland wollen. Diese Spieler muss man finden.

Ist es also folgerichtig, einem Hans Lindberg, der in der vergangenen Saison noch Bundesliga-Torschützenkönig war, im kommenden Sommer mit 41 Jahren keinen neuen Vertrag mehr zu geben?

Hans ist überragend. Seitdem ich hier bin, liefert er ab wie kein anderer. So eine Entscheidung zu treffen, ist natürlich nicht leicht. Ich kann auch nachvollziehen, dass viele Menschen diese Entscheidung nicht verstehen. Aus aktueller Sicht gibt es auch keinen Grund, mit Hans nicht noch ein Jahr zu verlängern. Trotzdem habe ich immer die nächsten drei, vier Jahre im Blick. Hakun West, den wir im kommenden Sommer für Hans zu uns holen, wäre als junges Toptalent ein Jahr später schon nicht mehr auf dem Markt gewesen. Dann muss man einfach eine Entscheidung treffen, die zwar unpopulär und persönlich schmerzhaft, angesichts der sportlichen Perspektive aber richtig ist.

Glauben Sie, dass Lindberg in der Bundesliga bleibt?

Bei einem Angebot aus Hamburg würde er wohl zusagen. Das ist der Verein, bei dem er in der Bundesliga zu dem Spieler geworden ist, der er heute ist. Auch mit der Stadt hat er noch eine sehr große Verbundenheit. Ich kann zwar nicht einschätzen, was er im kommenden Sommer macht, weiß aber, dass er weiterhin eine Bereicherung für jede Mannschaft in der Bundesliga wäre.