Hamburg. Gustavo Casagrande ist der neue Offensive-Line-Coach der Hamburg Sea Devils. Wieso ihn seine Spieler dennoch ernst nehmen.
Ein Offensive Lineman im American Football wiegt durchschnittlich zwischen 125 und 130 Kilogramm bei einer Körpergröße von knapp unter zwei Metern. Wer Gustavo Figueredo Casagrande – 1,75 Meter groß, 80 Kilogramm schwer, freundliches Lächeln – zum ersten Mal begegnet, kann kaum begreifen, wie dieser eher schmächtige Kerl die „schweren Jungs“ der Hamburg Sea Devils in der Europaliga ELF als Positionscoach trainieren soll. Grande ist bei dem Brasilianer nur der zweite Teil seines Nachnamens.
Auch für die Hamburger O-Liner wirkte der neue Coach beim ersten Aufeinandertreffen Anfang April wie ein leicht überdurchschnittlich großes Frühstück. „Man ist gewohnt, dass die O-Line-Coaches normalerweise ein bisschen mehr Körpervolumen haben“, sagt Sea-Devils-Neuzugang Gerrit Brandt mit einem Schmunzeln. „Wenn man aber sieht, wie viel Ahnung er hat, wird die fehlende Größe schnell zur Nebensache.“
Sea Devils: Casagrande überzeugt durch Fachwissen
Casagrande beeindruckt nicht mit Äußerlichkeiten, sondern mit Fachkenntnis. „Ich muss meine fehlende Körpergröße mit Football-Wissen kompensieren“, sagt er. Kritische Blicke kenne er mittlerweile. „Ich verstehe, dass überall wo ich auftauche, die Spieler zunächst etwas skeptisch sind, wenn sie hören, dass ich der Offensive-Line-Coach bin. Es dauert aber meistens nicht lange, bis die Spieler mich respektieren“, sagt der 32-Jährige, der seit dem 1. April in Eppendorf wohnt.
Als Spieler war er selbst nie Teil einer Offensive Line, dem Mannschaftsteil, der den Quarterback beschützen und Lücken für das eigene Laufspiel reißen soll. Ohnehin ist der Weg, der Casagrande zu den Sea Devils führte, kein gewöhnlicher. Aufgewachsen ist er im brasilianischen Criciúma, einer 200.000-Einwohner-Stadt rund dreieinhalb Stunden nördlich von Porto Alegre. In den USA, dem Mutterland des Footballs, war Casagrande nie. Nur weil ein brasilianischer Spartensender in den 1990er-Jahren anfing, den Super Bowl zu übertragen, erfuhr er von der Existenz der Sportart, die sein Leben verändern sollte.
Casagrande gründete einst ein eigenes Football-Team
Im Alter von 20 Jahren, gründete Casagrande mit ein paar Freunden die Criciúma Slayers. Es war das erste Football-Team seiner Heimatstadt. Der Club war Casagrandes Hobby, hauptberuflich arbeitete er als Elektrotechniker. „Ich musste mir das Football-Wissen am Anfang selbst aneignen. In meiner Heimat gibt es keine Coaches, die schon mehrere Jahrzehnte Erfahrung in dem Sport haben“, sagt Casagrande, der im Jahr 2016 nach Italien zog, um dort für die Bergamo Lions und Varese Gorillas zu arbeiten.
„In Italien konnte ich das erste Mal als Coach arbeiten, und den Sport nicht mehr als reines Hobby ansehen“, sagt er. Damit erfüllte sich für ihn ein Lebenstraum. Nach einem Jahr zog er weiter nach Polen, arbeitete eine Saison für die Tychy Falcons und drei Jahre für die Silesia Rebels auf Erstliganiveau. In Polen, wo noch heute seine Frau lebt, spezialisierte er sich zunehmend auf die Offensive Line.
Spezialisierung auf Offensive Line in Polen
„Am Anfang habe ich jede Position auf dem Feld gecoacht. Irgendwann habe ich gemerkt, dass es mir hilft, mich zu spezialisieren. In die Offensive-Live-Position habe ich mich sofort verliebt“, sagt Casagrande. „Die O-Liner sind in jedem Football-Team die beste Gruppe von Menschen. Dort ist niemand selbstverliebt, sie opfern sich als Gemeinschaft für ihre Mitspieler auf. Diese Spieler erzielen fast nie einen Touchdown und stehen im Mittelpunkt, sondern machen die Drecksarbeit für das Team.“ Er wisse, dass er niemals selbst die Erfahrung gemacht habe, als O-Liner zu spielen. „Also versuche ich, so viel wie möglich in der Theorie darüber zu lernen“, sagt er.
Die Arbeit in Europa lasse ihn zwar einerseits seinen Traum leben, bringe andererseits aber auch Schattenseiten mit sich. „Der Schritt nach Europa war nicht einfach. Auf einmal ist man weit weg von seiner Familie und den Dingen, die man gewohnt ist. Das brasilianische Essen, Wetter und Lebensgefühl sind ganz anders als in Europa. In Brasilien sind die Menschen viel kommunikativer als in Deutschland oder Polen“, sagt er.
Football in Brasilien hat an Bedeutung gewonnen
In seiner Heimat sei der Football mittlerweile auch deutlich gewachsen. „Exponentiell sogar“, betont Casagrande. „Kurz vor der Corona-Pandemie hatte unsere erste Liga mehr als 30 Teams. Seit 2020 haben manche Firmen die Unterstützung ein bisschen zurückgefahren.“
Der Kontakt zu den Sea Devils entstand über den neuen Offensive Coordinator Brett Morgan, der von der guten Arbeit des Brasilianers mitbekam und ihn kontaktierte. Casagrande musste nicht lange überlegen, er sagte sofort zu. „Wenn es um American Football geht, gibt es in Europa keinen besseren Ort als Hamburg. Nirgendwo ist das Niveau höher als hier“, sagt er über seinen neuen Arbeitgeber. „Für mich sind die Sea Devils auch eine großartige Möglichkeit, mich persönlich weiterzuentwickeln.“
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Wenn die Sea Devils am 11. Juni gegen Rhein Fire in die ELF-Saison 2023 startet, werden bis zu 30.000 Zuschauer im Hamburger Volksparkstadion dabei sein. Casagrande, der so eine Kulisse noch nie ansatzweise erlebt hat, dürfte sich dabei womöglich ein bisschen klein vorkommen. Aber das kennt er ja.