Vor dem Halbfinale Deutschland gegen Brasilien ist der Psychokrieg eröffnet. Während die DFB-Kicker das Erlebnis aufsaugen wollen, sieht die brasilianische Teambetreuerin die Seleção nach dem Neymar-Schock sogar gestärkt.
Rio de Janeiro/Teresópolis/Hamburg. Mit großer Vorfreude bricht das deutsche Nationalteam am Montag zum WM-Halbfinale nach Belo Horizonte auf. „Auf diesem Kontinent gegen Brasilien zu spielen, ist etwas ganz Spannendes, etwas Herausragendes. So etwas erlebt man nicht alle Tage“, schwärmte Bundestrainer Joachim Löw vor dem WM-Kracher gegen den Gastgeber im ARD-Hörfunk. „Das Fußballspielen macht da noch mehr Spaß. Man genießt es, saugt es noch mehr auf und geht mit sehr viel Freude zu so einem Spiel“, sagte auch Bastian Schweinsteiger.
Trainiert wird 24 Stunden vor dem Anpfiff der Begegnung mit der Seleção am Dienstag (22.00 Uhr/ZDF und im Liveticker auf abendblatt.de) noch einmal im Estádio Mineirao, ehe der Countdown vor dem Halbfinal-Knaller so richtig startet. „Wir wollen natürlich gewinnen, das ist klar. Dazu braucht man Konzentration, die baut sich von Stunde zu Stunde auf“, erklärte Schweinsteiger.
Das deutsche Team weiß, dass alle fünf vorangegangenen WM-Partien ein vergleichbar leichtes Unterfangen waren im Vergleich zu dem Halbfinale gegen die auf den Heimtriumph programmierten Brasilianer mit dem gesamten Volk im Rücken.
„Wir spielen nicht nur gegen elf Brasilianer auf dem Platz, wir spielen gegen das ganze Land“, sagte der Bundestrainer. „Der Druck liegt ganz klar bei Brasilien. 200 Millionen Menschen, Fußball-Land, Rekordweltmeister, zu Hause – die Favoritenrolle hat schon Brasilien. Wir haben aber schon die Qualität, sie zu ärgern.“ Nach dem Abschlusstraining werden sich Löw und Verteidiger Jérome Boateng in Belo Horizonte in der letzten Pressekonferenz vor dem Spiel zur aktuellen Lage äußern.
Leiten wird das Spiel der mexikanische Schiedsrichter Marco Rodríguez. Für den 40-Jährigen ist es der dritte Einsatz bei diesem Turnier. Er leitete bereits die Gruppenspiele zwischen Belgien gegen Algerien (2:1) und Italien gegen Uruguay (0:1). In letzterem übersah er den Biss des Uruguayers Luis Suárez in die Schulter von Gegenspieler Giorgio Chiellini. Suárez wurde nachträglich für neun Spiele und vier Monate gesperrt. Den Italiener Claudio Marchisio stellte Rodríguez dagegen höchst umstritten mit glatt Rot vom Platz. Bei der WM 2010 war Rodríguez unter anderem für das deutsche Gruppenspiel gegen Australien (4:0) zuständig.
Psychologin sieht Brasilianer gestärkt
Derweil haben Brasiliens Nationalspieler das WM-Aus von Superstar Neymar gut verarbeitet. Das ist zumindest die Auffassung der Psychologin Regina Brandão, die am Sonntag ihre berühmten „Klienten“ zum dritten Mal im Trainingslager in Teresópolis besuchte.
„Es ist überraschend, auch angesichts ihres Alters. Es sind junge Spieler, auf die eine so große Verantwortung lastet. Sie haben mir gesagt, dass es Neymar war, der ihnen diesen Spirit mit auf den Weg gegeben hat. Das Leben geht weiter, waren ihre Worte“, informierte Brandão nach dem rund einstündigen Treffen mit den Seleção-Stars.
Brandão hatte auf Bitten von Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari, mit dem sie schon lange zusammenarbeitet, vor dem WM-Turnier ein Persönlichkeitsprofil eines jeden Spielers erstellt. Die Therapeutin war zuletzt nach dem Elfmeterkrimi im Achtelfinale gegen Chile in Teresópolis erschienen, als die Stars ihren Emotionen in Tränen und Gesten freien Lauf ließen.
Auch Ronaldo glaubt weiter fest an die Seleção. Brasiliens WM-Rekordtorschütze tippt auf einen 1:0-Sieg des Gastgebers. Brasilien sei geschockt gewesen vom Turnier-Aus für seinen verletzten Star Neymar, sagte der Weltmeister von 2002 in einem Interview auf fifa.com. „Aber wir müssen jetzt nach vorne schauen. Das ist ein Klassiker des Weltfußballs und ich glaube nicht, dass die Deutschen jetzt wirklich der große Favorit sind“, meinte der 37-Jährige. „Die Seleção wird immer der Favorit bleiben, gegen jede Mannschaft der Welt.“
Ronaldo vertraut auf Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari, der Brasilien schon vor zwölf Jahren zum Weltmeister gemacht hat. „Ich bin sicher, dass er seine Spieler in dieser Situation aufmuntern wird, vor allem denjenigen, der Neymars Posten übernimmt.“
Ronaldo liegt in der ewigen WM-Torschützenliste derzeit mit 15 Treffern gleichauf mit dem deutschen Stürmer Miroslav Klose.
Cruyff und Li drücken Löw-Elf die Daumen
Weltweit sammelt indes die deutsche Mannschaft immer mehr Sympathien. So drückt nicht nur Chinas Ministerpräsident Li Keqiang der DFB-Elf die Daumen („Ich hoffe, dass das mit anderen Weltmeistertitelfavoriten nicht zu Missverständnissen führt“), sondern auch Hollands Fußball-Legende Johan Cruyff. Der einzige Halbfinalist, der als Mannschaft guten Fußball zeige, sei Deutschland, schrieb Cruyff am Montag in seiner wöchentlichen Kolumne für die Tageszeitung „De Telegraaf“ und schwärmte von den Pässen, dem Positionsspiel und dem Einsatz von Torwart Manuel Neuer. „Ich genieße besonders Toni Kroos. Der Junge macht wirklich alles gut. Seine Ballbehandlung ist sogar fast perfekt.“
Er sei sehr gespannt auf das Halbfinale gegen Brasilien, erklärte der Vize-Weltmeister von 1974. „Für den Fußball hoffe ich, dass Deutschland weiterkommt.“ Der WM-Gastgeber könnte eigentlich viel besser spielen, als er das tue. „Es ist eine Sünde, dass Länder wie Brasilien und Argentinien so wenig Gebrauch machen von ihrem Talent“, sagte Cruyff. Die Niederlande treffen im zweiten Halbfinale auf Argentinien.