Der Abendblatt-Kolumnist über die Aussichten der Deutschen und seine speziellen WM-Favoriten. Auf einige Spieler hat Felix Magath einen besonderen Blick.
Hamburg. Angeschlagene, verletzte Spieler, der Ausfall von Marco Reus, eine holprige Vorbereitung, durchwachsene Testspiele, vor Ort jetzt Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit – das Lamento könnte beliebig fortgesetzt werden, wollte man die Chancen der deutschen Mannschaft bei der WM in Brasilien schlechtreden. Dazu besteht kein Anlass.
Es ist die übliche Nervosität vor Großereignissen, die ganz normalen Zweifel, die alle plagen, weil niemand genau weiß, wie es um seine Form kurz vor Turnierbeginn steht. Das geht nicht nur den Deutschen so. Alle haben mit diesen, ähnlichen oder schwerwiegenderen Problemen zu kämpfen – nur bei den zu Favoriten erhobenen Teams klingen diese Vorgänge immer noch ein bisschen dramatischer.
Dass die deutsche Mannschaft zu diesem Kreis gehört, bleibt unbestritten. Joachim Löw kann auf den qualitativ besten Kader zählen, mit dem jemals ein Bundestrainer bei einer Weltmeisterschaft antreten durfte. Und wurde nach dem dritten Platz bei der WM 2010 in Südafrika dieser Generation eine noch erfolgreichere Zukunft prophezeit, kann man vier Jahre später feststellen, dass sich die einzelnen Spieler und auch das Team als Ganzes weiterentwickelt haben; was nicht in jedem Spiel, aber in der Gesamtheit der Spiele zu sehen war.
Alle Mannschaftsteile sind inzwischen mit erfahrenen Profis internationaler Klasse besetzt, mehr als die Hälfte der Spieler standen 2013 in London im Champions-League-Finale zwischen Bayern München und Borussia Dortmund. Bei den vergangenen vier Turnieren seit 2006, zwei Welt- und Europameisterschaften, haben wir jeweils das Halbfinale erreicht. Das spricht für eine stabile Qualität auf höchstem Niveau.
Ich sehe deshalb keinen Grund, pessimistisch zu sein. Ob es in Brasilien zum vierten Titel reichen wird, der offenbar als logischer Endpunkt der Entwicklung dieser Mannschaft betrachtet wird, hängt in den späteren K.-o.-Begegnungen von vielen Faktoren ab. Glück ist stets einer davon.
Sucht man nach kleinen Problemen, wäre vielleicht Sami Khedira das größte. Nach seinem erst vor Kurzem auskuriertem Kreuzbandriss kann er bei der WM nicht in bester körperlicher und spielerischer Verfassung sein. Für Löw ist Khedira aber offensichtlich jene herausragende Spielerpersönlichkeit, die eine Mannschaft zu führen versteht, auf die Löw nicht verzichten will, weil er ihn als integralen Bestandteil seiner Mannschaftsarchitektur sieht.
Es ist nun eine Frage der Abwägung, wann und inwieweit Khedira dem Team auf dem Platz helfen kann, obwohl er besagte Defizite hat und nach seiner Rückkehr bislang keine Partie über 90 Minuten bestritten hat, weder bei Real Madrid noch in der Nationalelf.
Reus’ Ausfall wiederum ist vor allem ein persönliches Drama. Die Mannschaft wird davon weit weniger betroffen sein, weil sie in der Offensive mit technisch und taktisch hervorragend ausgebildeten Kräften wie Mesut Özil, Mario Götze, André Schürrle, Lukas Podolski, Julian Draxler, Toni Kroos und Thomas Müller, dem WM-Torschützenkönig von 2010, fast schon überbesetzt scheint.
Die Zeit der klassischen Neun ist nicht vorbei
Löw vertraut im Angriff diesen wendigen, vielseitigen, ballsicheren Typen, um, wie er sagt, kompakte Abwehrbollwerke aushebeln zu können. Das ist seine Philosophie. Unser neuer Rekordtorschütze Miroslav Klose wird in Brasilien daher über eine Rolle als Einwechselspieler wahrscheinlich nicht hinauskommen. Leverkusens Stefan Kießling, einer der besten Bundesligatorschützen der vergangenen Jahre, stand nicht einmal im 30er-Kader.
Die Zeit der durchsetzungsfähigen Mittelstürmer – wie es früher beim HSV ein Horst Hrubesch war und heute ein Klose immer noch ist – halte ich entgegen zahlreicher Prognosen dennoch nicht für abgelaufen. Manchester City wurde mit seinem Stoßstürmer Edin Dzeko gerade wieder englischer Meister, und auch ich bevorzuge Systeme mit mit offensiven Außenverteidigern, die bis an die Grundlinie rennen und dann Flanken vors Tor schlagen. Für diese brauchen sie im Zentrum Abnehmer.
Die gibt es, und sie werden meiner Meinung nach auch künftig gebraucht – nur nicht beim Bundestrainer. Das soll nicht als Kritik an Löws Spielweise missverstanden werden. Jeder Trainer zieht aus der Analyse des Spiels seine Schlüsse. Die sind eben oft unterschiedlich, müssen aber nicht falsch sein.
Boateng sollte gegen Ronaldo spielen
In Löws System haben aufgrund der offensiven Grundausrichtung die Abwehrspieler ihre Rollen vornehmlich defensiv zu interpretieren. Die Positionen links und rechts hinten werden folglich vom Bundestrainer mit Benedikt Höwedes und Jerome Boateng mit zwei gelernten Innenverteidigern besetzt. Boateng wird dabei im Auftaktspiel gegen Portugal die Aufgabe erhalten, Weltfußballer Cristiano Ronaldo zu stoppen. Aufgrund seiner Schnelligkeit scheint er für CR7 der richtige Mann.
Hatten wir in der Defensive zuletzt Schwierigkeiten, sollten die behoben sein. Dafür diente schließlich die Vorbereitung. Die hohe Zahl an Gegentreffern war bei uns nie eine Frage mangelnder Qualität einzelner Deckungsspieler, sondern der fehlenden Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den Mannschaftsteilen geschuldet.
Mein Resümee sollte Sie jetzt nicht mehr überraschen: Die deutsche Mannschaft wird in den Gruppenspielen von Portugal, Ghana und den USA – sportlich in dieser Reihenfolge – zwar stark gefordert, aber sicherlich nicht überfordert werden. Achtel- und Viertelfinale scheinen ebenfalls machbar, das mögliche Halbfinale gegen Brasilien könnte dann schon über den maximalen Turniererfolg entscheiden.
Mein WM-Tipp ist diesmal nämlich nicht besonders originell. In dem Kreis der Favoriten, für mich sind das Brasilien, Spanien, Deutschland, die Niederlande und mit Abstrichen Italien, – nicht aber Argentinien – könnte der Heimvorteil für den fünfmaligen Weltmeister sprechen.
Trainer Felipe Scolari hat aus einem versprengten Haufen Individualisten eine verjüngte, hungrige Mannschaft geformt, die ihre Leistungsfähigkeit vor einem Jahr mit ihrem Sieg beim Confed-Cup bereits angedeutet hat. Und aus der Vergangenheit wissen wir, dass manche Schiedsrichterentscheidung im Zweifel auch mal für den Gastgeber ausfällt.
Spanien ist nicht so gierig wie Brasilien
Spanien, das überragende Team der vergangenen sechs Jahre, hat natürlich ebenfalls die Klasse, seine einmalige Erfolgsserie fortzusetzen. Die Zeit und die damit verbundenen extrem hohen Belastungen sind an dieser Mannschaft indes nicht spurlos vorbeigegangen. Jene Gier, die ich bei den Brasilianern spüre, kann ich beim Titelverteidiger nicht mehr in diesem erforderlichen Maße erkennen.
Eher sind für mich die Niederlande ein Titelkandidat. Hatten die Holländer immer schon herausragende Spieler, haben sie diesmal mit dem von mir hochgeschätzten Louis van Gaal einen Coach, der die notwendige Überzeugung und Siegesmentalität zu vermitteln versteht, die dem Team bei Weltmeisterschaften in den entscheidenden Augenblicken oftmals fehlten.
Wären da noch die unberechenbaren Italiener, das personell am schwächsten besetzte Ensemble meiner fünf WM-Kandidaten. Mit ihrer taktischen Disziplin und ihrer offenbar über Generationen vererbten Defensivkunst bleiben sie ein höchst unangenehm zu bespielender Gegner, vor allem wenn sie in Führung liegen. Das hat die deutsche Mannschaft erst vor zwei Jahren bei ihrer 1:2-Niederlage im EM-Halbfinale schmerzhaft erleben müssen.