Hamburg. Der Fanclub „Braun-weiße Vielfalt“ kämpft seit fünf Jahren für die Belange von behinderten Anhängern des FC St. Pauli – nicht immer mit Erfolg.
An diesem Mittwochmorgen sind es noch rund 100 Stunden bis zum Anpfiff des Heimspiels gegen den VfL Osnabrück. Doch beim FC-St.-Pauli-Fanclub „Braun-weiße Vielfalt“ haben die Vorbereitungen längst begonnen. Dabei geht es aber nicht etwa um eine Choreografie oder einen Fanmarsch, sondern schlicht um viel Grundlegenderes. Etwa; Wie kommen wir ins Stadion und wieder zurück? Denn die Mitglieder sitzen im Rollstuhl, sind gehbehindert, gehörlos oder haben andere Einschränkungen. „Da geht es dann um Kartenkontingente, die Anfahrt, Betreuung vor Ort und vieles mehr“, sagt Catharina Trost. Die 45-Jährige ist Vorsitzende des Clubs, der sich vor fünf Jahren gegründet hat und der einzige für behinderte Menschen ist. „Zuerst sind wir natürlich Fans, aber auch Lobbyisten für die Belange von Menschen mit Einschränkungen.“
Und diese Lobby-Arbeit ist dringend notwendig. Denn die Situation etwa für Rollstuhlfahrer ist am Millerntor – wie in fast allen deutschen Fußballstadien – keineswegs so, wie sie sein sollte. Das fängt schon mit der Zahl der Plätze an. 0,5 Prozent der Zuschauerkapazität sollen laut Versammlungsstättenverordnung und Empfehlung der DFL für Rollstuhlfahrer zur Verfügung stehen. Eigentlich. Denn diese Zahl wird nirgends erreicht.
Millerntor-Stadion: Die vorgeschriebene Zahl an Rollstuhlplätzen wird nicht erreicht
„Am Millerntor müsste es eigentlich 147 Plätze geben, tatsächlich sind es 68, alle an der Haupttribüne“, sagt Jörn Weidlich. Der 60-Jährige, dessen Sohn Bastian im Rollstuhl sitzt, war früher Behinderten-Fanbeauftragter des FC St. Pauli, und kümmert sich nun bei der „Braun-weißen Vielfalt“ um alles Organisatorische. Wobei „alles“ durchaus wörtlich zu nehmen ist. Er regelt bei vielen um die Anreise und koordiniert die Betreuung vor Ort, die viel komplizierter ist, als es sich die meisten vorstellen. So gibt es viele verschiedene Rollstuhlgrößen, dementsprechend muss geplant werden, wer wo einen Platz findet. Es sind ja nicht immer dieselben Personen, die kommen. 38 Dauerkarten gibt es, der Rest wird frei vergeben. Und wie überall im Stadion ist auch hier die Nachfrage immer sehr viel höher als das Angebot.
Manche haben Mehrfachbehinderungen und höheren Betreuungsbedarf, dazu kommen Fans der Gastmannschaft, die ebenfalls an der Haupttribüne ihre Plätze haben. Vor den Spielen ist es eine ziemlich aufwendige Rangierarbeit, bis alle ihren Platz haben. „Und wenn es ein technisches Problem gibt, dann ist es Jörn, der im Zweifel auch mal schnell einen Rollstuhl repariert“, sagt Catharina Trost, die an einer Auto-Immun-Lungenerkrankung leidet.
Ein großes Problem ist die Toilettensituation. Im Stadion gibt es zehn barrierefreie WCs, aber nur sechs in der Haupttribüne. Auf- und zuschließen lassen sie sich mit dem „Euroschlüssel“, der für alle Behindertentoiletten in Deutschland passt. „Aber es gibt kein Besetztzeichen. Deswegen kommt es immer wieder zu der peinlichen Situation, dass jemand aufschließt, obwohl die Toilette gerade benutzt wird“, berichtet Catharina Trost. Zudem seien die Türen sehr schwergängig, sodass sie aus dem Rollstuhl kaum zu öffnen sind.
„Die Belange der Behinderten sind früher, auch beim Neubau des Millerntor-Stadions, einfach zu wenig beachtet worden“, sagt Weidlich. Das kann Sylvia Pille-Steppat nur bestätigen. Die 56 Jahre alte Architektin sitzt selbst im Rollstuhl, ist erfolgreiche Para-Ruderin und arbeitet im „Kompetenzzentrum Barrierefreiheit“. „Einen wirklichen Bewusstseinswandel hat es erst in den vergangenen fünf Jahren gegeben“, sagt sie. Davor sei es meist dem Zufall überlassen gewesen, ob die Belange Behinderter bei Neubauten wirklich mitgedacht worden seien oder nicht.
Die Toiletten haben kein Besetztzeichen, was oft zu unangenehmen Situationen führt
Am Millerntor gebe es die „typischen Probleme bei Bestandsbauten“, sagt Pille-Steppat, die sich vor einigen Monaten gemeinsam mit Vertretern des Fanclubs und des Vereins die Situation vor Ort angesehen hat. „Bei einem Neu- oder Umbau würde die Versammlungsstättenverordnung genauso wie die DIN-Vorschrift greifen“, erläutert sie. „Im Bestand geht es zwangsläufig immer um Kompromisse.“ Die Toiletten hingegen könnten und sollten natürlich umgerüstet werden.
„Da müssen wir auf jeden Fall ran“, sagt Franziska Altenrath, die beim FC St. Pauli für Nachhaltigkeit zuständig ist. „Der Plan ist, im Sommer Angebote einzuholen und dann die Finanzierung und mögliche Fördergelder zu klären.“ Sie ist im Dialog mit dem Fanclub und kündigt weitere Verbesserungen an. „Es ist geplant, einen Infopunkt einzurichten, der sich am Eingang zur Haupttribüne befindet. Dort soll es neben Informationen beispielsweise auch Regencapes für die Rollis geben. Außerdem haben wir vor, Zeigemenüs bei den Kiosken einzusetzen.“
Manches Problem wird auch durch moderne Technik gelöst. Sehbehinderte können sich per App die vereinseigene Radioreportage des Spiels anhören und sind nicht mehr an bestimmte Plätze gebunden. Und die Texte auf der Homepage werden in einfache und leichte Sprache übersetzt, unter anderem von Catharina Trost.
Die Bemühungen des Vereins erkennt auch Catharina Trost an. „Lange war es sehr schwierig, und wir fühlten uns nicht wirklich ernst genommen“, sagt sie. „Aber das ist besser geworden.“ Die Zusammenarbeit mit dem Ticketcenter etwa laufe vorbildlich. Und mit Franziska Altenrath gebe es eine Ansprechpartnerin, die sich um Lösungen bemühe.
Beim HSV gibt es zusätzliche Rollstuhlplätze – wegen der EM
So einfach wie beim HSV wird es allerdings nicht laufen – dort wird die Zahl der Rollstuhlplätze gerade erheblich erweitert, auch andere Verbesserungen sind geplant. Das geht aber nur, weil das Stadion EM-tauglich gemacht wird, und die Uefa sonst keine Zulassung erteilt hätte.
Dafür wird am Millerntor wohl nächste Saison erstklassiger Fußball zu sehen sein. Und vielleicht schauen ja auch die Profis mal wieder bei den „Rollis“ vorbei, so wie vor ein paar Wochen. „Da kam die ganze Mannschaft nach dem Spiel und hat jeden abgeklatscht – das war großartig“, erzählt Trost. Bei der Braun-weißen Vielfalt sind sie eben zuallererst Fans.