Hamburg. Wie das Pokaldrama der Kiezkicker zustande kam und welche Schlüsse die Hamburger vor dem Fürth-Spiel nun daraus ziehen.

Mit Trauer geht jeder individuell um. Der Liedermacher und bekennende Fan des FC St. Pauli, Thees Uhlmann (49), verarbeitete sie in seinem Lied „Das hier ist Fußball“, dessen Passagen am Mittwoch oft zitiert wurden. „Tragik ist wie Liebe ohne Happy End. Und eines ist wirklich sicher: Dass die Tragik St. Pauli kennt“, heißt es unter anderem darin.

Marcel Hartel vergrub seine Trauer. Erst unter seinem Trikot, dann unter einem Meer aus Tränen. Der Brasilianer Maurides, der Dienstagnacht im Millerntor-Stadion wie Hartel bei der 4:5-Niederlage nach Elfmeterschießen im DFB-Pokal-Viertelfinale gegen Fortuna Düsseldorf vom Punkt gescheitert war, tat es ihm gleich.

Tiefe Trauer beim FC St. Pauli nach Aus im DFB-Pokal

Mittelstürmer-Kollege Johannes Eggestein beantwortete erhobenen Hauptes eloquent und mit taktischem Tiefgang wie eh und je Fragen, sprach aber von der „bittersten Niederlage meiner Karriere“, und Oladapo Afolayan war so herzgebrochen, wie das nur irgendwie vorstellbar ist.

„Wir können über Taktik sprechen, so viel ihr wollt. Aber in solch einem Spiel entscheiden das Herz und wer es mehr gewinnen will“, stammelte der Engländer mit leiser, brechender Stimme und langen Pausen zwischen den Satzfragmenten. „Ich könnte nicht stolzer auf meine Jungs sein, wie wir uns immer wieder zurückgekämpft haben“, sagte der Rechtsaußen.

Träume vom Finale in Berlin sind geplatzt

Egal, wessen Reaktionen und Emotionen zu beobachten waren, eines einte sie alle: Sie, die Spieler des FC St. Pauli, hatten eine riesige Chance verpasst. Das Halbfinale des DFB-Pokals, es wäre erst das zweite der Vereinsgeschichte gewesen.

Gegen einen guten, aber auch – wie nur drei Tage zuvor bewiesen – schlagbaren Gegner aus der gleichen Liga. Dazu 3,4 Millionen Euro an Prämie, die in Zukunft sehr vieles verändert hätten. Alle Träume, vor allem den aufs Finale im Berliner Olympiastadion, begraben.

Kein Vergleich mehr zum Ligaspiel

Zu sagen, St. Pauli habe verdient verloren, würde zu weit führen. Aber Düsseldorf ist verdient eine Runde weitergekommen.

Im Gegensatz zum 2:1 in der Liga am Sonnabend im Rheinland hatten die Hamburger den Gegner diesmal nicht so souverän im Griff. Sie ließen zwar abgesehen von den Angriffen, die zu den Gegentoren führten, nichts anbrennen, fanden offensiv aber kaum ein Mittel.

Hürzeler: "Habe die Lösungen nicht klar genug präsentiert"

Die Fortuna fokussierte sich darauf, das Zentrum dicht zu machen, die Außenspieler stellten die Passwege zu. „Wir hätten aber schon mutiger reinspielen können“, sagte Eggestein.

Besser wurde es erst, als die Außen Elias Saad und Afolayan nach innen zogen, Hartel und Eggestein die Innenverteidiger rauszogen. „Aber dann hat der letzte Pass gefehlt“, monierte Cheftrainer Fabian Hürzeler, der das Ausscheiden auf seine Kappe nahm: „Ich habe die Lösungen nicht klar genug präsentiert.“

Hat sich der Trainer verwechselt?

Stattdessen versuchte es St. Pauli in der Verlängerung nach Kräfteverschleiß und Wechseln sogar mit längen Bällen, also einem Stil, mit dem man das Team glatt mit einem herkömmlichen Zweitligisten verwechseln könnte. Aber die Verwechslung war ja auch eines der Themen dieses denkwürdigen Abends.

Auf drei Positionen hatte der Coach Veränderungen in der Startelf vorgenommen. Die Einsätze von Lars Ritzka und Etienne Amenyido, denen auf der linken Seite nur wenig Progressives gelang, korrigierte er zur Halbzeit. Sascha Burchert im Tor blieb natürlich – mit bitteren Folgen für ihn und den Kiezclub.

Burchert verursacht Elfmeter

Der Fairness halber sei vorweggenommen, dass Burchert ein guter Keeper ist und eine noch herausragendere Persönlichkeit. Aber der 34-Jährige ist als Ersatzmann hinter Nikola Vasilj nicht im Spielrhythmus, kam bislang nur im Pokal sowie in Tests zum Einsatz.

Es zeigte sich weniger dabei, als er Düsseldorfs Stürmer Vincent Vermeij womöglich im Strafraum von den Beinen holte. Die Berührung war minimal, „ich hatte das Gefühl, er springt über mich“, sagte Burchert.

Hürzeler verteidigt seine Rotation

Doch sie reichte für einen Elfmeterpfiff vor dem 0:1. Offensichtlicher waren die Unterschiede zu Vasilj im Aufbauspiel sowie vor dem 1:2, als der Routinier einen Schuss von Christoph Daferner nicht festhalten und sich anschließend nicht schnell genug aufrichten konnte, um vor Torschütze Ao Tanaka an den Ball zu kommen. „Es war ein Ball, den ich schon fest habe, der dann rausrutscht“, sagte Burchert, dem hoch anzurechnen ist, dass er sich stellte.

Dennoch wirft dies die Frage auf: Hätte Hürzeler in einem Spiel von solch immenser Bedeutung rotieren dürfen? „Wir haben einen breiten Kader, ich vertraue allen meinen Spielern. Das ist auch fürs Teamgefüge wichtig, ich würde es wieder so machen“, verteidigte er seine Entscheidung.

Amenyido kann sich nicht zeigen

In Teilen war sie nachvollziehbar, am Sonnabend in Düsseldorf war die Mannschaft 134 Kilometer gelaufen, „wir brauchten Frische“. Aber vor allem Amenyido konnte in dieser Saison, sofern er fit war, kaum überzeugen, wurde schon eine Runde zuvor beim Regionalligisten FC 08 Homburg in der Halbzeit nach zuvor schwachem Auftritt ausgewechselt. Da es Hürzeler zudem vermieden hatte, sich zumindest öffentlich auf einen Pokaltorwart Burchert festzulegen, hätte er gut argumentierbar Vasilj einsetzen können.

Immerhin fruchteten die Einwechslungen fast durchweg. Carlo Boukhalfa köpfte in der Nachspielzeit der Verlängerung noch das 2:2, um damit beinahe für eine Explosionsgefahrenmeldung aus dem Stadion zu sorgen, und Danel Sinani verwandelte seinen Elfmeter – die Spieler hatten selbst entschieden, wer antritt – im Duell vom Punkt, in dem Burchert übrigens einmal parierte.

Schiedsrichter Stegemann "pfeift Blödsinn"

Hürzeler war zu diesem Zeitpunkt nur noch Tribünenzeuge. Erneut. In der ersten Partie nach seiner Gelbsperre in der Zweiten Liga legte der 30-Jährige noch eins drauf und flog in der letzten regulären Minute der Verlängerung mit Gelb-Rot vom Platz.

„Keine Ahnung, warum ich Gelb bekommen habe, das wissen wir bis heute nicht. Ich habe nicht gemeckert“, versicherte er, und tatsächlich lässt sich auf TV-Bildern nicht ausmachen, was er in Richtung von Schiedsrichter Sascha Stegemann gesagt haben soll. Anschließend kritisierte er, der erfahrene Referee habe „Blödsinn“ und „ins Blaue hinein“ gepfiffen.

Sperre fürs nächste DFB-Pokalspiel

Dennoch: Hürzeler steht längst unter Beobachtung der Unparteiischen und sollte seinen Worten, die Besserung geloben, endlich Taten folgen lassen. Sein derzeitiges Verhalten schadet der Mannschaft und ist eines smarten Menschen, wie er es zweifellos ist, unwürdig.

Zumindest folgt keine weitere unmittelbare Bestrafung in der Zweiten Liga daraus. Erst in der kommenden Saison muss Hürzeler im Erstrundenmatch des DFB-Pokals aussetzen.

Am Sonnabend gastiert der Tabellenzweite aus Fürth

Zukunftsmusik. Zunächst steht die Trauerarbeit im Vordergrund. Hürzeler muss es gelingen, sein Team schon bis zum Sonnabend (13 Uhr) wieder aufzurichten, wenn kein Geringerer als der Tabellenzweite Greuther Fürth zum Spitzenspiel auf St. Pauli gastiert.

„Du kannst gegen Düsseldorf verlieren. Wichtig ist, welche Reaktion wir zeigen. Selbstmitleid hilft uns in dieser Situation am wenigsten“, sagte der Übungsleiter. Dass ein mentaler Knacks erfolgt, glaubt er nicht.

Physische Regeneration wichtiger als die mentale

Evidenzpunkte dafür liegen nicht vor, da St. Pauli bis dato ungeschlagen (und offiziell zählt eine Niederlage im Elfmeterschießen übrigens als Unentschieden) durch die Saison gerauscht ist. Es gibt aber auch keine Gründe, die dagegen sprechen, da die Kiezkicker sich als äußerst widerstandsfähige und gefestigte Einheit präsentieren.

Entscheidender als die mentale dürfte die physische Regeneration werden. In zwei Begegnungen binnen vier Tagen spulte St. Pauli mehr als 270 Kilometer ab.

„Ein Heimspiel gegen den Zweiten ist jetzt genau die richtige Motivation für uns“, sagte Eggestein kämpferisch. Die Aussichten sind also gar nicht zu schlecht. Oder wie Uhlmann singt: „Meine Schulter ist nass durch des Nebenmanns Tränen. Kann es etwas Schöneres geben?“