Hamburg. Mitglieder wählen alle vier Kandidatinnen in den Aufsichtsrat. Revolte gegen das Präsidium wegen Schultz bleibt aus.

So ganz unerwartet war es ja schon von vornherein nicht gewesen, dass die vier Frauen, die sich am Sonnabend für den Aufsichtsrat des FC St. Pauli zur Wahl stellten, eine gute Chance hätten, sich gegen die quantitative Mehrheit von neun Männern durchzusetzen.

Nach den offiziell auf je drei Minuten begrenzten Vorstellungsreden auf der Mitgliederversammlung im CCH war es für den neutralen Betrachter sogar wahrscheinlich geworden, dass dieser Fall einträte. Alle vier Kandidatinnen überzeugten die Anwesenden mit ihren im Berufsleben und in ihren bisherigen Ehrenämtern bewiesenen Kompetenzen sowie auch mit der Art ihrer Vorträge.

Mitgliederversammlung: St. Pauli sorgt für Novum

Und so kam es dann auch zum Novum im deutschen Profifußball. Als Versammlungsleiter Kristian Heiser um 18.12 Uhr, also knapp sieben Stunden nach Beginn der Zusammenkunft, das Wahlergebnis verkündete, war die friedliche Revolution perfekt. Vier Frauen und nur drei Männer – zuvor war das Verhältnis 1:6 – bilden ab sofort den Aufsichtsrat des FC St. Pauli. Eine derartige Frauenquote von 57,1 Prozent gibt es bei keinem anderen Club der Ersten oder Zweiten Liga.

Die seit gut einem Jahr nach einem Mitgliederbeschluss festgeschriebene Quote von 30 Prozent wurde damit deutlich übertroffen. Diese Festlegung hatte aber womöglich dazu beigetragen, dass sich diesmal überhaupt schon mehr Frauen als zuletzt ermutigt wurden zu kandidieren.

Doch im Detail kam es noch etwas anders als gedacht. Denn nicht etwa die seit acht Jahren als Aufsichtsratsvorsitzende unumstritten agierende Sandra Schwedler (42) erhielt die meisten Stimmen der 895 an der Wahl teilgenommenen Mitglieder, sondern die erstmals kandidierende Kathrin Deumelandt. 612 Stimmen konnte die 49-Jährige auf sich vereinen – eine stolze Zahl, wenn man berücksichtigt, dass jedes Mitglied nur maximal vier der 13 Namen ankreuzen durfte.

Die Stärken von St. Paulis neuem Aufsichtsrat

Die in der Fanszene bekannte Sozialökonomin Deumelandt punktete zweifellos mit ihrem Bekenntnis, eine besondere Affinität zu Zahlen zu haben, und mit ihrem Engagement in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In dieser Funktion hatte sie im Juni Frankreichs Fußballidol Lilian Thuram (50) anlässlich seiner viel beachteten Lesung im Museum des FC St. Pauli interviewt.

Mit einem Abstand von 87 Stimmen folgte ebenfalls bei ihrer ersten Bewerbung die 40 Jahre alte Inga Schlegel (525), die lange in der ersten Frauenmannschaft des FC St. Pauli Fußball gespielt hat und inzwischen in der zweiten spielt, sich auch für die vielen weiteren sporttreibenden Abteilungen mit ihren mehr als 15.000 Mitgliedern einsetzen will und eine Zukunftsvision hat: den Aufstieg der St.-Pauli-Frauen in die 1. Bundesliga. Ob das vielleicht sogar vor den Männern gelingt?

519 Stimmen bekam schließlich Schwedler (42), die den Bronzerang mit Fassung trug. Ob sie weiter Vorsitzende des Kontrollgremiums bleibt, wird sich auf der konstituierenden Sitzung klären. Bisher hatte sie dieses Amt seit ihrer ersten Wahl 2014 inne, nachdem sie dort und auch 2018 jeweils die meisten Stimmen der Mitglieder erhalten hatte. Dieses Vorgehen ist so aber nicht vorgeschrieben.

Auf den Rängen vier bis sieben folgten René Born (45/335 Stimmen), Anna-Maria Hass (34/322) als vierte Frau sowie die bisherigen Aufsichtsratsmitglieder Philippe Niebuhr (51/289) und Sönke Goldbeck (280). Georg Margaretha (52/260) scheiterte nur knapp. Recht deutlich abgeschlagen folgten Joachim Weretka (71/129), Ali Sabetian (55/95), Maik Nöcker (53/74), Christian Anger (57/4) und Christoph Schleuter (53/30).

Göttlich freut sich über Wahl der Mitglieder

„Es ist ein sensationelles Ergebnis – und zwar nicht, weil jetzt vier Frauen im Aufsichtsrat sind, sondern weil es inhaltlich eine starke Besetzung ist. Es ist frischer Wind, das ist gut und hilft“, kommentierte nach der Versammlung Präsident Oke Göttlich den in der Fußballszene spektakulären Ausgang der Wahl.

St. Paulis Präsident Oke Göttlich musste sich auf der Mitgliederversammlung auch Pfiffe anhören.
St. Paulis Präsident Oke Göttlich musste sich auf der Mitgliederversammlung auch Pfiffe anhören. © Witters

Angesichts von vier Neuzugängen in dem Siebener-Gremium könnte sich die bisher gewohnte Zusammenarbeit mit dem Präsidium möglicherweise etwas verändern. „Ich erwarte, dass wir uns in der nächsten Woche das erste Mal treffen. Dann müssen wir sehen, ob das in den bisherigen Rhythmen und Abläufen so bleibt oder anderes gewünscht ist“, sagte Göttlich dazu.

Buhrufe für Göttlich wegen Schultz

Am Ende der annähernd acht Stunden langen Versammlung, der in der Spitze 1231 Mitglieder beiwohnten, war dem Präsidenten auch die Erleichterung darüber anzumerken, dass die Versammlung trotz der brisanten Gemengelage nach der Freistellung des populären Cheftrainers Timo Schultz nicht ausgeartet war.

Zweifellos war anfangs zu spüren, dass viele Anwesende mit dieser Entscheidung nicht einverstanden waren. So musste sich Göttlich schon früh bei seinem Bericht Pfiffe und Buhrufe gefallen lassen, als er das Thema ansprach. Sein Dank an Schultz für dessen mehr als 17-jähriges Engagement für St. Pauli wurde aus dem Publikum mit dem Wort „Heuchelei“ quittiert.

Und später musste sich auch die Aufsichtratsvorsitzende Schwedler Fragen gefallen lassen, warum auch ihr Gremium die Entscheidung mitgetragen hatte. „Man muss den Menschen und die Funktion trennen. Das haben wir deutlich gemacht. Es war nicht unser Ansatz, Timo Schultz zu demontieren. Es war eine Entscheidung, die menschlich schwer war, aber von der wir inhaltlich zu einhundert Prozent überzeugt sind“, sagte Göttlich.

Bornemann wehrt sich gegen Kritiker

Entscheidend zur Beruhigung trug ein rund 15 Minuten langer Monolog des in der Kritik stehenden Sportchefs Andreas Bornemann bei. In einer unaufgeregten Art trug er die bekannten Gründe für die Trennung von Schultz vor.

Dann wurde er auch emotional: „Manchmal hängt man mir eine Attitüde an, als sei ich der eiskalte Mensch, der über Leichen geht. Ich finde es schade, dass mir nachgesagt wird, ich hätte aus menschlichen und nicht aus inhaltlichen Überlegungen eine Entscheidung getroffen.“ Sein Beitrag wurde mit viel Beifall bedacht.

Bei der Entlastung des Präsidiums stimmten lediglich 19 Mitglieder mit Nein. „Die Mitgliedschaft des FC St. Pauli lebt. Das war ein ganz wichtiges Zeichen der Partizipation. Darauf waren wir vorbereitet. Ich bin wirklich dankbar, dass wir hier in einem konstruktiven Rahmen, anders als es viele vorher vermutet hatten, eine gute Diskussion gehabt haben – mit Einordnung und kritischem Feedback“, kommentierte Göttlich das Erlebte.

Offene Kritik an St. Paulis Präsidium

Überraschend mehr Umfang als die Diskussion um Schultz nahm das Thema Tarifvertrag für die im Verein Beschäftigten ein. Vor einem Jahr war ein entsprechender Antrag von den Mitgliedern verabschiedet worden. Doch die Umsetzung zieht sich.

„Es ist wahnsinnig kompliziert und braucht Zeit. Aber wir wollen ein Tarifkonzept unbedingt umsetzen, weil wir ein guter Arbeitgeber sein wollen. Wir werden Mitte des nächsten Jahres eine Lösung gefunden haben“, sagte Göttlich dazu.

Nur ein Randaspekt war, dass der FC St. Pauli in dem immer noch von Corona-Beschränkungen geprägten Geschäftsjahr 2021/22 ein Konzernjahresüberschuss von 359.873,70 Euro verbucht hat.