Hamburg. Der 51-Jährige steht bei den Fans massiv in der Kritik, genießt intern aber großen Rückhalt. Doch warum ist das so beim Kiezclub?
„Weißer, alter (Borne)Mann – tritt mal den eigenen Abgang an“, steht auf einer Pappe, die sich auf dem inszenierten Protestfoto ein Fan mit St.-Pauli-Schal vor das Gesicht hält. Daneben zeigt ein anderer die Aufschrift: „In Schulle we trust“ – wir vertrauen Schulle. Der Moderator Maik Nöcker hat das Foto bei Twitter gepostet, jemand, der dem FC St. Pauli eng verbunden ist und regelmäßig im Internet-TV des Vereins auftritt.
Die Stimmung in der Fanszene des Zweitligisten am Tag nach der Freistellung des beliebten Cheftrainers Timo Schultz und seines Assistenten Loic Favé war damit gut getroffen. Das zeigt auch die Onlinepetition, die am Mittwochmorgen auf der Plattform „change.org“ gestartet wurde. Das war gleichermaßen ein Signal der Hilflosigkeit und des Protestes. „Wir fordern, dass die Kündigung von Timo Schulz und seinem Team zurückgenommen wird!“, heißt es dort.
Die große Fan-Wut auf Andreas Bornemann
Wie sehr Stefan Kasper-Behrs, der Initiator der Petition, damit einen Nerv getroffen hat, zeigt die große Resonanz. Am Mittwochnachmittag waren schon knapp 2500 Unterschriften eingegangen. „Der überwiegende Teil der Fans des FC St. Pauli sieht das als Fehler an! Wer den FC St. Pauli lebt, würde niemals zu diesem Zeitpunkt eine Identitätsfigur wie Timo Schultz (Schulle) vor die Tür setzten“, heißt es in der Petition.
Gegen Andreas Bornemann, den Geschäftsleiter Sport, und Präsident Oke Göttlich richten sich deshalb zahlreiche Proteste von St.-Pauli-Fans. In den sozialen Netzwerken gibt es einen großen „Shitstorm“ gegen die Vereinsführung. „Es wird Zeit, den schlechten Entscheidungen der ,sportlichen‘ Führung des Vereins die Stirn zu bieten“, kommentiert der Anhänger Heiko Künne die Petition, „wir Fans sind der wichtigste Teil des Vereins.“ Mirco Hölling schreibt: „Diese Entscheidung (…) widerspricht unseren Werten … und ist die endgültige Enttäuschung über dieses Präsidium.“
Auf der Mitgliederversammlung am 17. Dezember muss Göttlich deshalb mit erheblichem Gegenwind rechnen. Der in den sozialen Netzwerken veröffentliche „Antrag“ eines „jollyrosenburg“ ist nicht ernst zu nehmen, spiegelt aber ebenfalls die derzeitige Stimmung ganz gut wider: „Oke abwählen (inklusive Bornemann-Rausschmiss). Schulle als Präsident wählen.“
Bornemann hat seinen Einfluss immer weiter ausgebaut
Der Präsident steht jedoch nicht zur Wahl, ebenso wenig wie Bornemann. Wohl aber sieben Plätze im Aufsichtsrat, für die es 13 Kandidaten gibt. Wie diese sich in ihren Vorstellungsreden positionieren, könnte interessant werden. Der Aufsichtsrat hat schließlich die Möglichkeit, „aus wichtigem Grund“ Präsidiumsvertreter abzuberufen. Der „Besondere Vertreter“ im Präsidium, Andreas Bornemann, kann dagegen nur vom Präsidium abberufen werden. Das wird aber nicht passieren.
Andreas Bornemann hat seit seinem Amtsantritt beim FC St. Pauli am 1. Juli 2019 seinen Einfluss immer weiter ausgebaut. Seine Berufung zum „Besonderen Vertreter“ im Präsidium mit Zeichnungsrecht Mitte Juli dieses Jahres unterstrich diesen Aufstieg, Bornemann wirkt unantastbar, Göttlich scheint ihm komplett zu vertrauen. „Eine Expertenentscheidung wird im Grundsatz vom Experten getroffen. Unser Experte für Sport ist Andreas Bornemann“, sagte Göttlich auf der Pressekonferenz nach der Hinrunde, in der die Analyse der ungenügenden sportlichen Situation angekündigt wurde, „der Sportchef ist selbstverständlich Teil der Analyse. Er ist aber auch derjenige, der hier in den vergangenen Jahren klar unsere Strategie verfolgt hat.“
Bornemann und die Defizite in der Kommunikation
Dass in der Stellungnahme von Bornemann zur Beurlaubung von Schultz ausschließlich dessen tatsächliche oder vermeintliche Fehler benannt wurden, stieß vielen auf. Selbstkritik des Sportchefs gab es nicht. Dabei gibt es genug Entscheidungen, die fachlich zu hinterfragen sind. Am auffälligsten ist natürlich die Fehleinschätzung über die Leistungsfähigkeit der neu verpflichteten Stürmer. Bornemann hat in den vergangenen Jahren ein gutes Gespür bei Spielerverpflichtungen bewiesen und mehrere Volltreffer gelandet – in dieser Saison ist ihm das weniger gelungen.
Dass er zudem Defizite in der Kommunikation hat, insbesondere bei unangenehmen Themen, ist seit der Trennung von Spielern wie James Lawrence, Philipp Ziereis oder Maximilian Dittgen im Sommer bekannt. Das Verhältnis zu Schultz, den Bornemann nach der missglückten Hinrunde 2020 noch gestützt hatte, hatte sich spätestens nach dem verpassten Aufstieg verschlechtert. Der empathische Trainer und der konsequente Entscheider funkten nicht mehr auf einer Wellenlänge. Der Verdacht, dass die Analyse tatsächlich nicht ergebnisoffen war, liegt nahe.
Schultz ist der letzte "alte St. Paulianer"
Schultz wurde nach Abendblatt-Informationen nicht einmal angeboten, in der Mitteilung über seine Beurlaubung selbst Stellung zu nehmen. Der 45-Jährige, der in dem Verein seit 17 Jahren gearbeitet hatte, war über die Entscheidung tief enttäuscht, aber nicht mehr wirklich überrascht. Öffentlich äußern möchte er sich derzeit nicht, um sich nicht zu unüberlegten Aussagen hinreißen zu lassen.
Schultz ist der letzte „alte“ St. Paulianer in einer herausgehobenen Position, der den Club verlassen hat, seit Bornemann im Amt ist. NLZ-Leiter Roger Stilz ging Anfang 2021 nach Belgien, Co-Trainer André Trulsen musste mit dem Engagement von Schultz gehen, Torwarttrainer Mathias Hain vor dieser Saison.
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Die konsequente Ausrichtung auf sportlichen Erfolg hat Präsident Göttlich mehrmals begründet. St. Pauli dürfe kein Kuschelclub sein. Nur Erfolg sichere die Möglichkeit, Öffentlichkeit für die sozialen und (sport)politischen Werte des FC St. Pauli zu erzielen. Auch wenn der Preis für das Image des „besonderen Vereins“ damit hoch ist.
„Es ist eine Besonderheit, dass diejenigen, die nicht genügsam sind, als Störer wahrgenommen werden“, sagte Göttlich zu der Kritik an unpopulären Entscheidungen, die dem sportlichen Erfolg dienen sollen: „Das ist aber falsch. Wir sollten genau diese Personen maßgeblich unterstützen.“