Freiburg/Hamburg. Ausfälle von Nemeth und Medic zwingen den Kiezclub zum Umdenken. Was in Freiburg gut funktionierte, kann auch in der Liga klappen.
Es war ein Abwehrmechanismus von Timo Schultz, das Ergebnis nicht wahrhaben zu wollen. Kein Wunder: Wer möchte schon akzeptieren, nur durch Tore in der Nachspielzeit der regulären 90 Minuten sowie in der letzten Minute der Verlängerung mit 1:2 (1:0, 1:1) aus dem DFB-Pokal auszuscheiden, so wie es dem FC St. Pauli beim SC Freiburg erging. Also machte sich der Trainer der Kiezkicker, die in den 120 Minuten zuvor so engagiert gegen den Bundesligadritten und über weite Strecken sogar gleichwertig aufgetreten waren, alternative Fakten zu eigen. „Auf der Anzeigetafel haben wir verloren, im Kopf gewonnen“, sagte Schultz und bewies ein gutes Gespür.
Denn auch alternative Wahrheiten können, je nach Perspektive, Wahrheiten sein. Faktisch bleibt von einem Pokalfight, der diesen Namen wirklich verdient hat, nichts außer einem bitteren Zweitrunden-aus, müden Beinen und Gefrierbränden aus der Eistonne. Im Hinterkopf bleibt eine ganze Menge, aus dem sich Fakten schaffen lassen. Allen voran der schultzsche Abwehrmechanismus, der auch auf dem Platz Form angenommen hat. Und Form annehmen musste, da die langfristigen Verletzungen von David Nemeth und Jakov Medic St. Pauli dazu zwingen.
FC St. Pauli: Nemeth fällt verletzt aus
Nemeth war bei der 1:2-Niederlage bei Eintracht Braunschweig am 8. Oktober schon nach neun Minuten ausgewechselt worden. Offiziell fehlt er seitdem wegen Adduktorenproblemen. Nach Abendblatt-Informationen laboriert der 21 Jahre alte Leistungsträger jedoch an einer schmerzhaften Entzündung des Schambeins. Der Heilungsprozess bei dieser Verletzung ist schwer vorherzusagen. Bei einer knöchernen Mitbeteiligung kann es immer wieder zu Rückschlägen kommen. Die Ausfallzeit variiert zwischen vier Wochen und einem halben Jahr. Erste Prognosen seitens St. Paulis deuteten dem Vernehmen nach auf drei Monate hin. Bitter für den Österreicher, der wegen der elfwöchigen Winterpause allerdings Glück im Unglück haben könnte.
Medic wiederum wurde am Donnerstagmorgen nach abgeklungenen Schwellungen nochmals an der rechten Schulter untersucht, auf die er im Stadtderby gegen den HSV gekracht war. Im Anschluss sollte das weitere Vorgehen gemeinsam mit der sportlichen Leitung und dem medizinischen Team besprochen werden. Allerdings zeichnete sich bereits in den vergangenen Tagen ab, dass die Wahrscheinlichkeit eines notwendigen invasiven Eingriffs hoch ist.
Medic könnte auch mit lädierter Schulter auflaufen
Dies würde das Ende der Hinrunde für den Kroaten bedeuten. Abhängig vom Ausmaß ist es möglich, mit einer lädierten Schulter für einige Partien – in diesem Fall die verbleibenden fünf in der Zweiten Liga – aufzulaufen und die Operation zu verschieben. Dies bietet sich jedoch einerseits nicht an, da Medic als Innenverteidiger seine Schulter in Zweikämpfen und Kopfballduellen stark belastet. Andererseits wäre das Risiko einer verzögerten OP auch ein persönliches für ihn. Sollte der 24-Jährige dann nämlich nicht nur bis zum Jahresende, sondern bis Ende Januar ausfallen, könnte St. Pauli mit Beginn des Transferfensters eine Alternative verpflichten, die dann womöglich Medic Spielzeit streitig macht.
Theoretisch könnte Sportchef Andreas Bornemann einen vertragslosen Defensivakteur als Direkthilfe ins Team holen. Dagegen spricht aber die kurze Zeitspanne bis nur noch zum 12. November vor der bis zum 29. Januar 2023 dauernden Winterpause, in der sich der Neue kaum im System akklimatisieren könnte. Ein Wintertransfer, der vom Neujahrstag an möglich ist, würde dagegen mit reichlich Vorbereitungszeit eine tatsächliche Verstärkung darstellen. Zudem sollte es um den Jahreswechsel Klarheit über die Ausfallzeiten von Nemeth und Medic geben.
„Betim hat es gut geschafft, nach vorne zu verteidigen"
Bis dahin, beginnend am Sonnabend (20.30 Uhr) beim Tabellenschlusslicht Arminia Bielefeld, müssen es die Alternativen im Kader richten. Wobei der Auftritt in Freiburg Hoffnungen schürt, dass die Betonung vor allem auf dem „alt“ liegen sollte – und zwar im Sinne von „alter Hut“, dass Betim Fazliji und Adam Dzwigala lediglich als Alternativen anzusehen sind. Fazliji, im Sommer immerhin für eine knappe halbe Million vom FC St. Gallen verpflichtet, blieb den Beweis seiner Leistungsfähigkeit bislang zumeist schuldig. Wobei der Kosovare hinter dem etablierten Duo allerdings auch kaum Möglichkeiten hatte, Werbung für sich zu machen.
In Freiburg gelang das durchaus. Der 23-Jährige klärte siebenmal, fing drei Schlüsselpässe ab – jeweils Bestwerte im Spiel. Dazu kam er nach Leart Paqarada auf die zweitmeisten Ballkontakte (70) und spielte die meisten Pässe (58) für St. Pauli. Einziger Makel: Diese kamen mitunter bei den Breisgauern an. „Betim hat es gut geschafft, nach vorne zu verteidigen, Linien zu überspielen, und hat in der defensiven Kommunikation viel Verantwortung übernommen“, lobte Schultz.
Youngster Beifus und Wieckhoff erhalten weitere Einsätze
Von Dzwigala ist längst bekannt, dass er einspringt, wann, wo und wie auch immer er gebraucht wird. Als Rechtsverteidiger, Innenverteidiger, notfalls sogar im defensiven Mittelfeld. Der kopfballstarke Pole könnte selbst Löcher im Käse stopfen. Auch die Youngster Marcel Beifus (19) und Jannes Wieckhoff (22), die in Freiburg ihr Saisondebüt gaben, werden bis zum Sehnsuchtsziel Winterpause weitere Einsätze erhalten, versicherte Schultz. Dass sie bislang nur in der Regionalliga zum Einsatz kamen, sei keine Bestrafung, „sondern die Vorbereitung auf den Ernstfall“.
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In diesem personellen Ernstfall entpuppt es sich nun als Vorteil, dass St. Pauli viele polyvalente – ein Adjektiv, über dessen inflationäre Nutzung intern gelacht wird – Spieler geholt hat, die nicht auf eine Position beschränkt sind. Erst dadurch besitzt Schultz die Möglichkeit, eine Fünferkette spielen zu lassen, was er zwar erst seit dem Stadtderby macht, dafür seitdem mit Erfolg. Wo es im ersten halben Jahr sowie zu Saisonbeginn nur die Raute im Mittelfeld gab, können die Hamburger taktisch endlich flexibler agieren, höher anlaufen, aggressiver pressen.
FC St. Pauli: Connor Metcalfe zuvor bei Freiburg
Eine Entdeckung dieser neuen Möglichkeiten ist Connor Metcalfe, der in Freiburg erst als Rechtsverteidiger, später im rechten Mittelfeld auflief. 120, abgesehen von seinen Ballverlusten, bärenstarke Minuten riss der 22-Jährige ab – nach seinem Wechsel im Sommer hatte er nicht mal zwei Trainingseinheiten am Tag geschafft. „Man kann Connor bei seiner Entwicklung zuschauen“, sagt Schultz. Dagegen hilft auch kein Abwehrmechanismus.