Sandhausen. Kein Sieg mehr ohne Kyereh? Die Kiezkicker verschenken den Pflichtsieg gegen Sandhausen in nahezu buchstäblich letzter Minute.
Den auf dem Papier schwächsten Gegner darf man nicht unterschätzen, und das nächste Spiel ist immer das schwerste. Schon klar. Doch, es gibt kein Drumherum, die Auswärtspartie des FC St. Pauli beim SV Sandhausen hätte in einem Pflichtsieg enden müssen. Einfacher wird’s diese Saison nicht mehr. Doch, nachdem die Kiezkicker das Fußballspielen nach einer Stunde ohne ersichtlichen Grund weitgehend einstellten, verschenkten sie einen sicher geglaubten Dreier wie der Osterhase seine Eier.
Selten hat man Trainer Timo Schultz nach einer Partie so frustriert, so niedergeschlagen gesehen. Zwar gab er seinen üblichen „Wir haben wieder einen Punkt mehr auf dem Konto“-Satz zu Protokoll. Dieser klang allerdings eher nach Durchhalteparole. Später gab Schultz auch zu, „heute fühlt es sich an, als hätten wir fünf Punkte verloren. Wir haben den Gegner leben gelassen und uns selbst das Loch gebuddelt.“
FC St. Pauli: Kein Sieg ohne Kyereh?
Seiner Mannschaft gelang es erneut nicht, ein Trauma zu überwinden. Das, ohne Daniel-Kofi Kyereh in dieser Saison in der Zweiten Liga nicht gewinnen zu können. Die Oberschenkelprobleme des Spielmachers ließen einen Einsatz nicht zu. Seine Zehner-Position übernahm Etienne Amenyido, ein schneller Barfuß-oder-Lackschuh-Spieler, der in der Vorwoche noch als Sturmpartner von Guido Burgstaller eingesetzt wurde. Den Zuschlag für die vakante Stelle in der Spitze erhielt Simon Makienok. Auch defensiv gab es einen Wechsel. Adam Dzwigala spielte rechts anstelle von Marcel Beifus.
Den Ton im Rund des idyllisch im Hardtwald gelegenen BWT-Stadions gaben ohne Wenn und Aber die Fans des FC St. Pauli an. Die atmosphärische Überlegenheit erinnerte – in viel kleinerem Ausmaß – an die Dominanz der Anhänger von Eintracht Frankfurt im Camp Nou. Die Musik auf dem Spielfeld? Spielte sich in der Anfangsphase erstaunlich oft im eigenen Drittel der Gäste ab.
Was war nicht alles über den Tabellenfünfzehnten, der ohne den verletzten Ex-HSVer Dennis Diekmeier antrat, geschrieben worden. Nur aufs Zerstören aus, statisch schwächstes Team der Liga. Der Auftritt in den ersten zehn Minuten strafte die Kritiker Lügen. Dreimal gelangte der Außenseiter vors Tor, nie zwingend, aber jeweils so, dass Torhüter Nikola Vasilj in Alarmbereitschaft versetzt war.
76 Prozent Ballbesitz für St. Pauli
Den Hamburgern wurde der Ball bereitwillig überlassen, zunächst zu kaum vorstellbaren 76 Prozent, damit anzufangen wussten sie zunächst wenig. Es mangelte an klaren Spielideen gegen die kompakten Ketten der Süddeutschen. Erster Versuch: erstaunlich viele hohe Bälle. Alles, was dabei heraussprang, war, nach einem schwach geklärten Kopfball, ein Distanzschuss aus gut 18 Metern von Dzwigala (30.), dem ein wenig Osterfeuer fehlte, um SVS-Torhüter Patrick Drewes in Bedrängnis zu bringen. Das zweite Mal, dass der Pole auffällig wurde, nachdem er bereits zu Beginn mit einem üblen Fehlpass beinahe eine Chance der Sandhäuser eingeleitet hatte.
Zwischenzeitlich musste Vasilj gegen Janik Bachmann Kopf und Kragen riskieren, was ihn vorübergehend nur das rechte Schienbein kostete, da der bosnische Nationalkeeper an diesem getroffen wurde. Makienok pfefferte kurz danach einen Schuss aus der Drehung knapp am Tor vorbei, ehe es mal wieder um die komplizierteste Beziehung von Schultz ging. Nein, nicht die zu Sportdirektor Andreas Bornemann, mit dem es nach erstaunlich offenen Worten zu den ausbleibenden Vertragsverlängerungen seiner Co-Trainer wohl einer klärenden Aussprache bedarf. Sondern die Beziehung zum Video-Schiedsrichter (VAR).
Burgstaller verwandelt Elfmeter
In der Vorwoche wurde der Ausgleichstreffer von Werder Bremen trotz vorher eindeutigem Handspiel und Überprüfung durch den Schiedsrichter anerkannt. Im Hardtwald wurde nun Burgstaller im Strafraum umgeholzt. Doch die Pfeife von Deutschlands Topschiedsrichter Felix Brych blieb stumm. Bis auf Weiteres.
Dann schaltete sich der VAR im Ohr des Müncheners ein, der die Szene am TV-Gerät überprüfte und seine Entscheidung revidierte: Elfmeter. In fester Entschlossenheit, seine Torlosserie von fünf Begegnungen zu beenden, schnappte sich der Österreicher selbst das Leder und machte, was ein Burgstaller, in der Regel so damit macht. Flach, mittig, frech, drin.
Die 1:0-Führung ging zur Halbzeit durchaus in Ordnung. St. Pauli war mittlerweile verstärkt auf Kurzpass- und Kombinationsspiel fokussiert. Dem fehlte zwar ohne Kyereh der kreative Punch, doch die Ansätze waren vielversprechender als die ineffektiven Flanken. Aus der Ballbesitz-Überlegenheit entwickelte sich auch eine spielerische.
Sandhausen bot St. Pauli Räume an
Dass in der Pause „Viva Las Vegas“ aus den Stadionboxen knarzte, musste als eindeutiger Auftrag an die Gastgeber gedeutet werden. Denn nun war Zocken angesagt. Selbst die Initiative zu übernehmen, liegt nicht im Naturell des ewigen Paradebeispiels für den klassischen Provinzzweitligisten aus der 15.000-Einwohner-Kleinstadt, der sich trotz kleinem Etat und fußballerisch beschränkten Möglichkeit aber aller Voraussicht nach wieder in der Liga halten wird. Sandhausen musste also öffnen.
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Und die Räume boten sich den Norddeutschen umgehend. Amenyido, vor dem Seitenwechsel eher zurückhaltend, sorgte mit seiner Schnelligkeit für Unruhe. Burgstaller bediente den von links in den Rücken der Verteidigung stoßenden Hartel maß genau, dieser scheiterte jedoch an Drewes (49.). Das hätte das 2:0 sein müssen. „Hätte, wenn und aber“, meinte Schultz, den viel mehr ärgerte, dass „die Körpersprache der Jungs mit jeder Minute schlechter wurde. Bis zur 55., 60. Minute hatten wir alles im Griff und standen stabil. Lediglich die Konter haben wir zu fahrig ausgespielt“.
Medic mit drei unnötigen Ballverlusten
Dafür, dass es dann doch wieder der Anflug von Brenzlichkeit aufkam, zeichnete St. Pauli allein selbst verantwortlich. Besonders Jakov Medic. Der Innenverteidiger leistete sich drei komplett unnötige Ballverluste, als er den Spielaufbau zu verspielt angehen wollte. „Jakov, Junge, mach’s dir einfacher“, brüllte Schultz von der Seitenlinie. Vergebens. Die technischen Fehler häuften sich bei der gesamten Mannschaft. Den Aktionen fehlten Konzentration und Konsequenz.
Schultz beriet sich lange mit seinem Trainerteam, welchen Impuls er setzen könnte. Die Zeit hatte der 44-Jährige, denn allen Unsicherheiten zum Trotz war Sandhausen nicht in der Lage, für konkrete Gefahr zu sorgen.
Schließlich hatten die drei Coaches ihre Entscheidung gefällt. Afeez Aremu kam für den vorsichtig agierenden Benatelli sowie Maximilian Dittgen zu seinem Comeback nach sechswöchiger Verletzungspause für Makienok, der als Zielspieler für hohe Bälle in dieser Phase nicht mehr primär benötigt wurde. Dittgen mit seiner Schnelligkeit war nun die schwungvollere Alternative, um offensiv wieder für Entlastung zu sorgen. Zumindest in der Theorie. Denn Dittgen wurde vorne außer Acht gelassen, und Aremu konnte nicht überzeugen.
Zum Ende stellt St. Pauli die Offensive ein
So blieb der Fokus auf der Defensivarbeit. Bashkim Ajdini (76.) traute sich aus rund 20 Metern, der von Jackson Irvine leicht abgefälschte Schuss streifte knapp am Gehäuse vorbei. Die erste nennenswerte Angriffsaktion der Baden-Württemberger.
Es sollte nicht die letzte bleiben. St. Pauli hatte die Offensive längst eingestellt. Von der Spielstärke war nichts mehr zu spüren. Kyereh, pardon, Kreativität: dringend gesucht! „Mit ihm hätten wir mehr Variabilität gehabt, aber dieses Spiel können wir auch ihn gewinnen“, so Schultz, dessen Star am kommenden Sonnabend gegen Darmstadt wieder „ein Kandidat“ sei. Überzeugung klingt anders.
St. Pauli steht eine Frust-Osterwoche bevor
Und schließlich kam auf dem Feld der im Fußball viel zu häufig geschriebene Satz zum Tragen: Es kam, wie es kommen musste. In der Nachspielzeit legt Dario Dumic eine Ecke per Kopf zurück auf links, wo Bachmann seine Freiheit wohl selbst kaum glauben kann und unbedrängt zum Ausgleich einköpft.
Szenen wie in Barcelona, wo das Gäste-Publikum übernimmt? Lassen wir in Katalonien. Stattdessen jubelt das sympathische Sonntagnachmittagspublikum alles raus, was sich über die Woche so angestaut hat. Sandhausen bleibt durch den Punktgewinn sechs Zähler vor dem Abstiegsrelegationsrang und dürfte den Klassenerhalt so gut wie in der Tasche haben.
St. Pauli steht hingegen eine Frust-Osterwoche bevor. „Wir freuen uns einen Tag über Siege, diesmal ärgern wir uns zwei über den Punktverlust, um dann Montag viel besser gelaunt wieder ins Training zu starten“, sagte Schultz. Die Ostergeschichte hatte auch eine Auferstehung am Ende vorgesehen. An irgendwas muss man sich ja festhalten.
Die Statistik:
- Sandhausen: Drewes – Ajdini (84. Kinsombi), Dumic, Zhirov, Okoroji – Zenga, Trybull (84. Kutucu) – Soukou (90.+1 Deville), Bachmann, Seufert (90.+1 Esswein) – Testroet.
- St. Pauli: Vasilj – Dzwigala, Ziereis, Medic, Paqarada – Benatelli (72. Aremu) – Irvine, Hartel (90.+2 Beifus) – Amenyido (84. Ritzka) – Burgstaller (90.+2 Matanovic), Makienok (72. Dittgen).
- Tore: 0:1 Burgstaller (38./FE), 1:1 Bachmann (90.+2).
- Schiedsrichter: Brych (München)
- Zuschauer: 7094
- Gelbe Karten: Seufert (1).
- Torschüsse: 7:6
- Ecken: 9:4, Ballbesitz: 44:56 %, Zweikämpfe: 99:107