Hamburg. St. Paulis Trainer spricht vor erstem Ligaspiel über die Themen Wohlfühloase, Leistungsprinzip und Reizklima.
Wenn der FC St. Pauli an diesem Montagabend (20.30 Uhr Sky und Liveticker abendblatt.de) mit dem Auswärtsspiel beim VfL Bochum in die neue Zweitligasaison startet, schwingt eine große Portion Ungewissheit und Skepsis mit, was diese zehnte Zweitliga-Spielzeit nach dem vorerst letzten Bundesligaabstieg für den Club vom Millerntor bereithalten wird.
Bis zum Sonntag vor einer Woche beherrschten Aufbruchstimmung, Vorfreude, ja schon eine gewisse Euphorie die allgemeine Stimmungslage im Team und im Umfeld. Ausgelöst worden war diese – im Vergleich zur Vorsaison so gänzlich andere – Atmosphäre bekanntermaßen in allererster Linie durch die Ablösung von Cheftrainer Jos Luhukay und die Ernennung des Trainer-Eigengewächses Timo Schultz als dessen Nachfolger.
Schultz Gegenentwurf zu Luhukay
Der 43-Jährige hatte denn auch leichtes Spiel, mit seiner offenen, kommunikativen und klaren Art nicht nur seine Spieler, sondern auch die vielen, unmittelbar rund um das Team tätigen Mitarbeiter für sich zu gewinnen – seien es nun die Zeugwarte, Mannschaftsärzte oder auch Mitarbeiter des Medienteams, um nur einige zu nennen.
Schultz ist als Trainer-Persönlichkeit so etwas wie der Gegenentwurf zu dem in seiner Grundhaltung permanent griesgrämigen und in seinen Äußerungen und Verhaltensweisen immer wieder unberechenbaren Luhukay. Gleichzeitig aber ist Schultz mindestens ebenso ehrgeizig und leistungsorientiert wie sein niederländischer Vorgänger, der am Ende der vergangenen Saison auch bei der Vereinsführung jeglichen Kredit verspielt hatte, nachdem diese ihn lange gestützt und nach außen verteidigt hatte.
Niemand nennt das Saisonziel
Sechs Wochen lang blieb die positive Erwartungshaltung ungetrübt. Die diesmal von Sportchef Andreas Bornemann frühzeitig verpflichteten Zugänge passten augenscheinlich ins Team und schürten die Hoffnungen, dass sich unter Schultz ein frisches, erfolgshungriges Team mit Perspektive entwickeln wird. Auch in den fünf Testspielen gegen durchweg ambitionierte und teilweise höherklassige Gegner enttäuschte die auf vielen Positionen neu zusammengestellte Truppe nicht.
Wie erwähnt – dies galt bis zum Sonntag vor einer Woche, bis zum 2:4-Debakel im DFB-Pokal beim Regionalligateam SV Elversberg aus der saarländischen Provinz. Seither stellen sich die Anhänger und Beobachter die Frage, ob all das, was in den Wochen vor der Pokalpleite geschah, nur ein schöner Schein war und die harte Realität eine noch stärker von der Abstiegsangst geprägte Saison als zuletzt sein wird.
Ein greifbares Saisonziel will beim FC St. Pauli derzeit kein Verantwortlicher benennen – aus guten Gründen offenbar. So sagte auch Timo Schultz am Sonntagmorgen vor dem Abschlusstraining: „Mit einer konkreten Zielsetzung anhand eines Tabellenplatzes tue ich mich schwer. Da würde ich gern ein paar Spieltage abwarten und schauen, wer sich wo in der Liga einsortiert.“ Die ersten Spiele am Wochenende hätten wieder einmal unter Beweis gestellt, dass in der Liga „extrem viel Power und Physis drin“ sei und es viele „kompakte und homogene Mannschaften“ gebe. Sein eigenes Team wird nach den Eindrücken aus Elversberg erst noch beweisen müssen, dass es auch in diese Kategorie einzuordnen ist.
Paradigmenwechsel durch Schultz
„Man soll nicht nach einem Spiel, das wirklich nicht gut war, alles infrage stellen“, sagte Schultz am Sonntag in Bezug auf die von ihm geplanten Veränderungen in seiner Startelf. Dieser Satz kann aber ebenso als Appell gewertet werden, auch seine Arbeit noch nicht schon jetzt allzu kritisch zu beurteilen.
Fakt ist, dass St. Paulis Führung, also Sportchef, Präsidium und letztlich auch Aufsichtsrat, mit der Ernennung von Timo Schultz einen Paradigmenwechsel vollzogen hat und erstmals seit Thomas Meggle im Spätsommer 2014 wieder einem Trainer aus den eigenen Reihen das Vertrauen für das Zweitligateam geschenkt und sich nicht aus der großen Heerschar der arbeitslosen Übungsleiter bedient hat.
Wohlfühloase unter Timo Schultz
Wer jetzt die Aussagen fast aller St.-Pauli-Spieler hört, die auch Luhukay erlebt haben, könnte zur Einschätzung kommen, dass unter Timo Schultz wieder genau jene Wohlfühloase zurückgekommen ist, die von seinem Vorgänger so hart kritisiert und als Hauptgrund für den bis dahin zu geringen Erfolg angesehen worden war. Wie nun steht Schultz zu diesem Thema, zum scheinbaren Widerspruch zwischen Leistungsprinzip und grundsätzlichem Wohlbefinden im Team?
„Es ist tatsächlich ein Thema und ein schmaler Grat“, sagte er am Sonntag auf Nachfrage des Abendblatts. „Ich bleibe dabei, dass man seine Leistung nur abrufen kann, wenn man sich wohlfühlt, wenn man gern zur Arbeit geht. Ich glaube, dass sich allein dadurch einiges regelt, dass wir einen Konkurrenzkampf auf jeder Position haben, der die Spieler gegenseitig antreibt“, stellt er seine Sichtweise differenziert dar. „Von daher sehe ich das Wort Wohlfühloase gar nicht mal so negativ. Aber es ist klar, dass wir genau ein Auge darauf haben, wie sich die Spieler verhalten.“
Arschtritt oder Zuspruch - das wechselt
Wer Schultz in den vergangenen Wochen beobachtet hat, konnte erleben, dass er und seine Co-Trainer Loic Favé und Fabian Hürzeler es sehr schnell erkennen, wenn im Training die Körperspannung der Spieler nachlässt. Dies wird dann mit deutlichen Worten umgehend moniert.
Doch Schultz versucht auch, bei allem Bemühen um eine gerechte Behandlung, zwischen verschiedenen Spielern zu unterscheiden. „Ob es dann mal ein Arschtritt ist oder trotzdem eher ein Zuspruch, weil jemand sehr geknickt ist und eher in den Arm genommen werden muss, ist individuell vom Typ abhängig“, sagt er in Bezug auf sein Verhalten nach unbefriedigenden Leistungen wie zuletzt in Elversberg.
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Gleichzeitig räumt Schultz ein, dass es in Sachen Reizklima innerhalb des Teams „noch Luft nach oben“ gibt. „Ich fand so ein Reizklima immer sehr gut und hatte kein Problem damit, wenn es im Training mal etwas heißer herging“, sagt er. „Die Spieler sind noch nicht zu 100 Prozent da, sich noch klarer gegenseitig die Meinung zu sagen. Es ist aber nach den vergangenen Jahren auch nicht ganz einfach, in vier, fünf Wochen alles so wegzuwischen.“ Das klingt nach erheblichen, mentalen Aufräumarbeiten.
Am Ende aber werden wie üblich Ergebnisse darüber entscheiden, ob das Modell Timo Schultz beim FC St. Pauli mehr als nur ein Experiment, als einer von vielen Versuchen, sein wird. Das Spiel jetzt in Bochum wird zumindest ein Indiz dafür liefern, in welche Richtung es in dieser Saison gehen kann.