Hamburg. Der FC St. Pauli entscheidet sich für das Trainertalent aus den eigenen Reihen als neuen Chefcoach. Eine Analyse.
„Wir müssen ihnen klar machen, dass der Weg nicht zu Ende ist, wenn sie da oben trainieren dürfen, sondern es dann erst richtig anfängt.“ Das sagte Timo Schultz einmal im Gespräch mit dem Abendblatt auf die Frage, wie es denn gelingen könne, dass sich mehr Nachwuchstalente des FC St. Pauli im Profikader etablieren.
In diesem Sinne steht jetzt Timo Schultz selbst genau an der Stelle, dass es „richtig anfängt“. Am Sonntag wurde der 42 Jahre alte Ex-Profi zum neuen Cheftrainer des FC St. Pauli ernannt und mit einem Vertrag bis zum 30. Juni 2022 ausgestattet, nachdem er in den vergangenen fünf Jahren zunächst die U-17-Bundesligamannschaft und seit 2018 das U-19-Bundesligateam des Millerntorclubs erfolgreich trainiert hatte.
Was Schultz von Luhukay unterscheidet
Im Vergleich zu seinem Vorgänger Jos Luhukay, vom dem sich der FC St. Pauli nach Abschluss der Zweitligasaison vor zwei Wochen offiziell einvernehmlich getrennt hatte, ist Schultz quasi ein Gegenentwurf.
War der bundesligaerfahrene Luhukay offensiv als „Trainer für den Aufstieg“ verpflichtet worden, nachdem ihm in seiner Karriere dies schon mit Borussia Mönchengladbach, FC Augsburg und Hertha BSC gelungen war, ist Schultz nun die interne Lösung, die für Bodenständigkeit und Besinnung auf das eigene Potenzial und die eigene Identität stehen soll.
„Timo hat in seinen 15 Jahren beim FC St. Pauli alle Bereiche durchlaufen und sich stetig weiterentwickelt. Der Verein hat sich auf die Fahne geschrieben, nicht nur Spieler, sondern auch seine Trainer auszubilden. Deswegen freue ich mich umso mehr über die Entscheidung von Andreas Bornemann, mit Timo Schultz einen Trainer zu verpflichten, der aus den eigenen Reihen stammt“, kommentierte St. Paulis Präsident Oke Göttlich die Personalie.
FC St. Pauli wollte eigentlich Thioune
Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass St. Pauli auch an Osnabrücks bisherigen Trainer Daniel Thioune interessiert war, ehe der HSV diesen in der vergangenen Woche verpflichtete. Keine Frage, auch Thioune hätte ans Millerntor gepasst. Bei Schultz besteht daran überhaupt kein Zweifel. Schon als Spieler hatte der in Wittmund geborene Ostfriese alles andere als einen leichten Weg gehen müssen.
Über seinen Heimatverein Tus Esens kam er als 17-Jähriger in die Jugend von Werder Bremen, absolvierte später 107 Spiele für Werders zweite Mannschaft, ehe er über den VfB Lübeck und ein halbes Jahr Harburger TB zu Holstein Kiel kam. Hier wurde er zwischenzeitlich von Trainer Frank Neubarth in die zweite Mannschaft abgeschoben.
Im Sommer 2005 setzte Schultz schließlich seine Laufbahn beim FC St. Pauli fort, der damals schon zwei Jahre lang in der Regionalliga Nord herumdümpelte. Auch am Millerntor war der Mittelfeldspieler erst einmal für die zweite Mannschaft vorgesehen, setzte sich aber im Profiteam durch und reifte zu einem Führungsspieler.
Dabei war er auch einer der Protagonisten der legendären „Bokal-Serie“ 2005/06 mit dem Einzug ins Halbfinale des DFB-Pokals – ausschließlich gegen Gegner, die mit „B“ anfangen. Im Viertelfinalspiel gegen Werder Bremen auf Schneeboden im Millerntor-Stadion trug er den Treffer zum 3:1-Endstand zum sensationellen Sieg bei.
Ein gutes Jahr später folgte der Aufstieg in die Zweite Liga und 2010 sogar der Sprung in die Bundesliga, in der Schultz im Alter von 32 Jahren sein Debüt gab und noch drei weitere Einsätze hatte, ehe er seine Profikarriere beendete. Er ging in die zweite Mannschaft, spielte hier noch, aber startete vor allem als Co-Trainer seine neue Karriere, die ihm jetzt, neun Jahre später, den Cheftrainerposten bescherte.
St. Pauli: Schultz steht für Mentalität
In diesen Jahren lernte Schultz als Co-Trainer des Profiteams seit 2012 in André Schubert, Michael Frontzeck, Roland Vrabec und schließlich Thomas Meggle ganz unterschiedliche Typen kennen. Als im Dezember 2014 Ewald Lienen Meggle ablöste und Abder Ramdane als Co-Trainer mitbrachte, war für Schultz die Zeit gekommen, im Nachwuchsbereich selbst Verantwortung als Cheftrainer zu übernehmen und auch seine Ausbildung zum Fußballlehrer voranzutreiben.
In diesem Rahmen absolvierte er das obligatorische Praktikum natürlich bei St. Paulis Profis und lernte dabei auch noch die Arbeitsweise von Markus Kauczinski kennen.
„Timo ist entscheidungsfreudig, klar, in seinem Alltag sehr gut organisiert und offen für neue Ansichten“, urteilte Roger Stilz, der Leiter von St. Paulis Nachwuchsleistungszentrum (NLZ), einmal über Schultz. Nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Werdegangs als Fußballprofi ist St. Paulis neuer Cheftrainer zu der Erkenntnis gelangt, welche Voraussetzungen entscheidend sind, um im Profigeschäft erfolgreich zu sein.
„80 Prozent ist Mentalität, 20 Prozent sportliches Talent. Wenn die nötige Mentalität nicht vorhanden ist, hat man keine Chance. Dann wird man von den Buballas dieser Welt aufgefressen“, sagte er einmal im Abendblatt mit einer Anspielung auf St. Paulis lauf- und kampfstarken Abwehrspieler Daniel Buballa.
Schultz soll St. Pauli entwickeln
Genau diesen und noch ein paar weitere langjährige St.-Pauli-Profis, die er schon in seiner Zeit als Co-Trainer kennengelernt hat, wird er nun wieder in seiner neuen Rolle unter seinen Fittichen haben. Dazu gehören auch Torwart Robin Himmelmann, die Verteidiger Christopher Avevor und Philipp Ziereis sowie Mittelfeldspieler Christopher Buchtmann.
Dazu kennt Schultz die jungen Profis Finn Ole Becker, Marvin Senger, Christian Viet, Aurel Loubongo M’Boungou und Leon Flach aus seiner Arbeit als Coach der U-19-Junioren.
„Ich habe während der Gespräche mit Timo viel Leidenschaft und Engagement gespürt. Timo ist ein junger Trainer, der den Verein, das Umfeld und die Bedürfnisse bestens kennt und im Nachwuchs auf die Spielweise gesetzt hat, die wir favorisieren – einen aktiven, offensiv ausgerichteten Fußball“, sagte St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann. „Zudem hat er während seiner Tätigkeit im Nachwuchsbereich gezeigt, dass er Teams weiterentwickeln und stabilisieren kann.“
Hain bleibt Torwarttrainer unter Schultz
Timo Schultz selbst sagte: „Es stand für mich außer Frage, dieses Angebot anzunehmen. Das ist für mich als Trainer nach vielen Jahren im NLZ-Bereich der ideale Einstieg ins Profigeschäft. Nach der letzten Saison gehen wir natürlich mit einer gewissen Demut, aber auch mit klaren Ideen in die neue Spielzeit.“
Mit der Klärung der Cheftrainerfrage werden nun auch zügig Entscheidungen erwartet, wie das Trainerteam künftig zusammengesetzt sein wird. Dabei gilt als sicher, dass Mathias Hain, der noch gemeinsam mit Schultz für St. Pauli gespielt hat, weiter Torwarttrainer sein wird.
Auch der Verbleib von André Trulsen als Co-Trainer ist wahrscheinlich. Unklar ist, wie es mit Co-Trainer Markus Gellhaus weitergeht, der seit Juli 2017 bei St. Pauli ist.