Hamburg. Erstaunlich eng: Welche Beobachtungen ein Abendblatt-Reporter rund um St. Paulis Sieg gegen Nürnberg machte. Eine Reportage.
Die Botschaft des FC St. Pauli an seine Fans vor dem ersten Geisterspiel der Vereinsgeschichte war eindeutig: #stayhome. Eine halbe Stunde vor dem Anpfiff gegen Nürnberg scheint sie angekommen. Auf den Straßen rund ums Millerntor herrscht Sommerpausenstimmung. Es ist ruhig, Anhänger in Fan-Shirts muss man mit der Lupe suchen.
Auf dem Heiligengeistfeld ist die Gemütslage wehmütig. Knapp zwei Dutzend Leute sind gekommen. Die meisten fotografieren die Gegengerade, an der ein großes „#Leave no one behind“-Banner prangt. Ein Mann auf einem Fahrrad lauscht traurig den Geräuschen der sich aufwärmenden Spieler, die aus dem Stadion dringen.
Weitläufigere Kneipen zeigen das Spiel live
Knapp 30 Ordner sichern das Stadion, Polizei ist noch weniger zu sehen. Alle Zugänge bis auf den zur Gegengerade sind weiträumig abgesperrt. Den Vorplatz zur Südtribüne, sonst Treffpunkt der Ultras, sichert die Polizei zusätzlich mit einem Einsatzwagen. "Da passiert nichts. Die sind alle vernünftig", sagt ein Beamter zu seinem Einsatzleiter. Der nickt. Später wird die Polizei eine "positive Bilanz" ziehen. Es habe "keine größeren Einsätze gegeben“.
Doch wie sieht es mit den St.-Pauli-Fankneipen aus? #stayhome? Auf den ersten Blick ja. Jolly Roger, Domschänke, Knust – die in Fankreisen beliebten Namen haben alle dicht. Während ein großer, schlaksiger Mann mir erklärt, ich solle mir hesgoal.com anschaffen – "Alle Spiele auch einzeln live! Manchmal ist der Kommentar holländisch. Ich lerne die Sprache gerade, man will ja auch was verstehen" –, mache ich vier Orte ausfindig, die das Spiel live zeigen: die weitläufigeren Restaurants "September" und "Zwick" sowie das "Klick" und den "Fußballtreff Libero".
Erstaunlich viele Fans – und alle ohne Maske
Am weiblichen "Libero" in Gestalt einer Kellnerin kann ich nicht vorbeistürmen. "Wir sind voll", lautet ihre Ansage. Sehe ich. Viele Leute. Erstaunlich eng aneinander. Alle ohne Maske. Ich entscheide mich für das "Klick" in der Glashüttenstraße, eine Mischung aus Café und Bar. Viele Wimpel und Schals hängen an den Wänden, eine St.-Pauli-Uhr zeigt kurz nach zwölf.
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Wirt Stavros lässt mich eine "Coronabedingte Registrierung" mit Namen, Telefonnummer und E-Mail-Adresse ausfüllen. "Muss ich vier Wochen behalten. Für Kontrollzwecke", sagt er. Bereitwillig trage ich meine Daten ein. "Hier gehen sonst 100 Mann rein, mehr als 22 lasse ich heute aber nicht zu", erklärt Stavros. Und die halten fast alle brav zwei Meter Abstand voneinander. Maskenpflicht herrscht nur beim Bewegen durch das Lokal.
Die Bilder zu St. Paulis Geistersieg:
St. Pauli: Geisterspiel am Hamburger Millerntor
Schreie und Flüche wie in alten Zeiten
Nach 20 Spielminuten stellt sich mit der vergebenen Riesenchance von Waldemar Sobota Fußballstimmung ein. Andrea, eine rüstige Frau mit Reibeisenstimme, sorgt für die meisten Lacher. "Was habe ich das alles vermisst", kommentiert sie ein Schüsschen von Henk Veerman. Auch andere Fans tauen auf. Einer äußert sein Unverständnis übers Umarmungsverbot beim Jubeln: "Man kann doch nicht alle Emotionen verbieten."
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Als der Nürnberger Keeper Christian Mathenia Veerman per Notbremse stoppt, wird geschrien, geflucht, gestikuliert und – ganz wie in den alten Zeiten – über den Videobeweis geschimpft. Obwohl Mathenia vom Platz fliegt. Weil es so lange gedauert hat. Corona? Längst ganz weit weg! Immerhin gilt die Abstandsregel noch.
St.-Pauli-Fan tanzt auf dem Stuhl
Bis zum Siegtor des Schweden Viktor Gyökeres fünf Minuten vor Schluss. Einige Fans klatschen sich jubelnd ab, Andrea steigt auf ihren Sitzplatz und tanzt zu Blurs "Song 2" ihre Freude heraus. Beim Abpfiff sind alle erlöst, mit dem einzigen St.-Pauli-Sprechchor und einem Ouzo aufs Haus wird der Sieg gebührend gefeiert.
Nach dem Spiel zieht es mich wieder zum Millerntor. Kinder fahren Rollschuh, ein Mädchen spielt Hüpfkästchen. Über Facebook sehe ich auf meinem Smartphone St. Paulis technischen Direktor Ewald Lienen.
Er analysiert die Partie vom Knust aus, war der einzige Ehrengast beim Kneipen-Geisterspiel. "So nahe am Stadion, und man darf nicht rein – das fühlte sich an wie die Höchststrafe", sagt Lienen. Nächsten Sonnabend tritt der FC St. Pauli in Darmstadt an. Andrea sagt, sie freue sich jetzt schon darauf.
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