Mayrhofen. Der schnelle, aber bisher oft zu leichtsinnige Offensivspieler startet einen Neuanfang. Seine Qualitäten passen zu Luhukays Spielidee.

Eine ganz persönliche Premiere feierte Cenk Sahin am Freitagmittag. Zum ersten Mal in seiner Karriere als Profifußballer führte der 24 Jahre alte offensive Außenbahnspieler des FC St. Pauli eine Gesprächsrunde mit Medienvertretern komplett in deutscher Sprache – und das in einer durchaus ordentlichen Qualität.

Eine sensationelle Leistung ist dies – um es richtig einzuordnen – gewiss nicht, schließlich übt der Türke bereits seit drei Jahren seinen Beruf in Deutschland aus und hatte seither einen vom Verein vermittelten regelmäßigen Deutsch-Unterricht. Bisher war es aber weniger das fehlende Können als vielmehr wohl eine Mischung aus Scheu und Bequemlichkeit, die ihn veranlasste, entweder englisch zu sprechen oder die Dienste eines Dolmetschers zu beanspruchen.

Dass Sahin nun ausgerechnet im vergangenen halben Jahr, als er an St. Paulis Liga-Konkurrenten FC Ingolstadt 04 verliehen war, das Zutrauen fand, selbst mehr deutsch zu sprechen, ist eine von vielen Kuriositäten in seiner Karriere. Sportlich besonders gut ist es ihm in Ingolstadt ja bekanntlich auch nicht ergangen. Bei zehn überwiegend kurzen Einsätzen in 18 möglichen Spielen seit Januar, keinem Treffer und keiner Torvorlage muss der Plan, bei den „Schanzern“ wieder mehr Spielpraxis und damit neues Selbstvertrauen zu erlangen, als gescheitert betrachtet werden.

Hohes Tempo und Balltechnik zeichnen Sahin aus

„Einmal hatte mir Trainer Jens Keller gesagt, dass ich beim übernächsten Spiel von Beginn an spielen werde. Aber dann hat die Mannschaft gewonnen, und er hat danach dieselbe Startelf aufgestellt“, berichtete Sahin jetzt. Auch der Trainerwechsel von Keller zu Thomas Oral änderte nichts an Sahins Reservistenrolle. Der Rest ist bekannt. Ingolstadt stieg nach verlorener Relegation gegen den SV Wehen Wiesbaden ab, Cenk Sahin ist zurück beim FC St. Pauli und startet jetzt hier unter dem für ihn neuen Trainer Jos Luhukay wieder einmal einen Neubeginn.

Dabei passen Sahins Qualitäten – hohes Tempo und Balltechnik – nahezu ideal zu der Art Fußball, die Luhukay künftig noch mehr als bisher spielen lassen will. Wie das im besten Fall aussehen kann, zeigte Sahin am Freitag im Trainingsspiel am Vormittag. Mit einem Steilpass von Mats Möller Daehli in Szene gesetzt, gewann er den Offensivzweikampf gegen Verteidiger Christopher Avevor und passte den Ball scharf nach innen zu Stürmer Dimitrios Diaman­takos, der dieses Zuspiel zu einem Tor verwertete. So kann es also aussehen, wenn Sahin seine Fähigkeiten umsetzt.

Doch es gab bisher eben auch diesen anderen Cenk Sahin, der zu eigensinnig spielt, der Bälle im Spielaufbau in der eigenen Hälfte unnötig verliert, weil er nach dem ersten Gegenspieler auch noch auf einmal den zweiten und dritten austricksen will, dabei besser postierte Mitspieler übersieht, und der bei Ballverlusten stehen oder liegen bleibt und lamentiert, er sei doch gefoult worden, während sich der Gegner längst im Konterangriff befindet.

Jos Luhukay übt Kritik an Sahins Defensivspiel

Solch eigensinnige Aktionen wird auch Trainer Jos Luhukay nicht durchgehen lassen. Das wird jedem klar, der den Niederländer beim Training beobachtet und erlebt, wie lautstark er etwa ein nur halbherzig praktiziertes Pressing kritisiert. „Alibimäßigkeit wird bestraft“, rief er am Freitag über den Platz. Dabei waren aber im konkreten Fall einige Gegenspieler von Sahins Team gemeint.

An seinem Hang zur Leichtsinnigkeit waren bei St. Pauli Luhukays Vorgänger Markus Kauczinski und Olaf Janßen nahezu verzweifelt. Unvergessen bleibt die Szene vor Jahresfrist im Sommertrainingslager, als Kauczinski Sahin verbal zusammenstauchte, weil dieser beim Auslaufen nach dem Training in den Gehmodus umschaltete.

Jetzt hegt Sahin Hoffnungen, dass er unter Luhukay wieder zu der Form und zu dem Standing zurückkehrt wie zuvor bei Ewald Lienen in seiner ersten Saison bei St. Pauli. „Neuer Trainer, neues Glück. Er hat mit mir gesprochen und mir gesagt, dass er mich kennt, dass ich gute Fähigkeiten besitze, dass ich defensiv besser spielen muss, aber er Vertrauen zu mir hat“, berichtet Sahin. „Deshalb will ich jetzt alles geben.“ Lienen habe ihn damals zwar auch oft kritisiert, aber danach immer wieder in den Arm genommen, berichtet Sahin von der fast väterlichen Behandlung des heutigen technischen Direktors bei St. Pauli.

Niemand wollte Ablöse von 1,3 Millionen Euro zahlen

Zwischenzeitlich hatte Sahin in seinem Instagram-Account alle Fotos mit St.-Pauli-Bezug gelöscht. Er schien gekränkt, weil Trainer Kauczinski ihn mehrmals nicht einmal in den 18-Mann-Kader berufen hatte. Er wollte einfach nur weg, so schien es, um dem Frust zu entfliehen. Doch es gab keinen Club, der bereit war, auch nur annähernd die 1,3 Millionen Euro zu zahlen, die St. Pauli als Ablöse an den türkischen Topclub Basaksehir entrichtet hatte. Knapp hinter Ugur Inceman (2001/umgerechnet 1,38 Millionen Euro) ist Sahin bis heute der zweitteuerste Einkauf des Kiezclubs. „Die hohe Ablösesumme belastet mich ein bisschen“, gibt Sahin zu. „Es wäre gut, das zu vergessen.“ Dabei war er im Januar 2016 sogar schon einmal bei 4,5 Millionen Euro Marktwert taxiert worden. Heute sind es laut „transfermarkt.de“ nur noch 550.000 Euro.

Jetzt soll in Hamburg für ihn endlich alles wieder gut werden. Sahin hat wieder St.-Pauli-Fotos bei Instagram hochgeladen, und er sagt: „Meine Liebe zu St. Pauli ist zurück.“