Der FC St. Pauli schlägt Magdeburg. Aber diese Geschichte könnte selbst für Fußballromantiker zu viel des Guten sein.
Hamburg. In der 66. Minute erhoben sich alle 29.546 Zuschauer im Millerntor-Stadion. Bernd Nehrig holte sich den verdienten Sonderapplaus der Fans ab. Bei seiner Auswechslung umarmte er noch einmal jeden Mitspieler auf dem Weg zur Seitenlinie. Trainer Markus Kauczinski schenkte seinem Kapitän diesen emotionalen Moment. Denn nach fünfeinhalb Jahren ist im Winter wohl Schluss für Nehrig beim Kiezclub. Dabei müssen sich die Verantwortlichen des FC St. Pauli nach dem 4:1-Sieg gegen den 1. FC Magdeburg die Frage gefallen lassen: Kann man diesen Mann überhaupt abgeben?
Bei seinem vermutlich letzten Spiel im Trikot des FC St. Pauli war Nehrig der Mann des Spiels. Zum Rückrundenauftakt gegen den von Ex-HSV-Coach Michael Oenning trainierten Aufsteiger erzielte der 32 Jahre alte Mittelfeldspieler ein Tor selbst, holte einen Strafstoß heraus und bereitete einen Treffer vor. Eine Geschichte, die in dieser Form wohl nur der Fußball schreibt. Denn eigentlich klingt sie viel zu kitschig, um wahr zu sein. "Es war das perfekte Drehbuch, das man sich nur wünschen kann", sagte der Protagonist.
Selbst die Tatsache, dass St. Pauli in der Tabelle an Union Berlin vorbeizog und sich zumindest für einen Tag auf den Relegationsplatz verbesserte, geriet an diesem Sonnabend zur Nebensache. "Jeder hat sich für Bernd gefreut. Er ist ein wichtiger Bestandteil des Teams", brach Torschütze Marvin Knoll eine Lanze für den Matchwinner. "Wenn er gebraucht wird, ist er da." Ähnlich äußerte sich auch Kauczinski: "Für Bernd hätte man das Spiel nicht besser malen können, nachdem er eine schwere Zeit hinter sich hatte."
Nehrig will weiterhin St. Pauli verlassen
Dennoch scheint es kein Happy End in der Causa Nehrig zu geben. Zumindest wenn es nach dem Willen des Defensiv-Allrounders geht. "Ich habe meinen Wechselwunsch geäußert. Natürlich war das Spiel heute einfach nur phänomenal, aber ich muss das große Ganze analysieren und dann ist es einfach Fakt, dass die Vorrunde für mich nicht zufriedenstellend war", sagte der abwanderungswillige Profi. "Ich bin in einer körperlichen Verfassung, in der ich noch zwei bis drei Jahre spielen kann – und zwar permanent und nicht nur sporadisch."
Nehrig will nun die kurze Winterpause nutzen, um gemeinsam mit seiner Familie und seinem Berater auszuloten, wohin die Reise gehen soll. "Ich habe eine Entscheidung für mich getroffen, ob es dann auch so kommt, entscheidet aber auch der Verein." Ein konkretes Angebot liege ihm noch nicht vor, aber es werde nun Gespräche mit anderen Clubs geben. "Bei St. Pauli sehe ich die Gefahr, dass sich an meiner Situation nur wenig ändert."
Nehrig trifft mit der ersten Chance
Schon am Freitag, einen Tag vor dem letzten Heimspiel des Jahres, hatte Kauczinski eine Einsatzgarantie für seinen Kapitän ausgesprochen. Aber nicht als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk bei dessen mutmaßlichem Abschied, sondern offiziell, weil sich der in dieser Saison kaum berücksichtigte Nehrig im Training in den Vordergrund gespielt haben soll.
Dem Routinier war offensichtlich viel daran gelegen, die Aussage seines Chefs nachträglich auf dem Platz zu untermauern. Von Beginn an nahm Nehrig eine Hauptrolle bei St. Paulis spielerisch dürftiger Vorstellung ein.
Dabei kamen die Gäste zunächst besser ins Spiel und hätten durch Lohkemper, der Philipp Ziereis im Laufduell stehen ließ, in Führung gehen müssen. Doch der Angreifer scheiterte am gut aufgelegten Torhüter Robin Himmelmann (9.). Auf die erste Chance der Gastgeber mussten die Zuschauer 16 Minuten warten. Dafür durften sie dann auch direkt jubeln. Eine scharfe Freistoßflanke von Knoll fand durch eine Kopfballabnahme von – na klar – Nehrig den Weg ins Tor (16.). Es war der Anfang vom Ende einer selbst für die Weihnachtszeit fast schon zu rührenden Geschichte.
Magdeburg verdiente sich den Ausgleich
Der Treffer täuschte aber deutlich über den Spielverlauf hinweg. Trotz der Führung hatte St. Pauli Probleme, die Partie zu kontrollieren. Die abstiegsgefährdeten Magdeburger zeigten die reifere Spielanlage auf einem Rasen, der Ballästheten auf beiden Seiten vor Schwierigkeiten stellte.
Einzelkritik: Veerman wohl schwer verletzt
Magdeburg kam mit den bescheidenen Platzverhältnissen vor allem im ersten Durchgang besser zurecht. Nur sechs Minuten nach der Führung glichen die Gäste aus. Doch der Treffer zählte nicht, weil sich Müller im Luftduell mit Luca Zander regelwidrig mit dem Ellenbogen einen Vorteil verschaffte. Erst als St. Paulis Rechtsverteidiger blutüberströmt mit vier Klammern am Kopf getackert werden musste, nahm Schiedsrichter Daniel Schlager nach einer kurzen Besprechung mit Assistentin Katrin Rafalski den Treffer zurück. "Wenn er das nicht gemacht hätte, wäre ich auf ihn losgegangen", sagte Knoll, der sich vehement beschwert hatte, im Scherz.
Eine korrekte Entscheidung des Unparteiischen, die aber St. Pauli weiterhin nicht zu mehr Sicherheit verhalf. Und so kam Magdeburg doch noch vor der Pause zum Ausgleich. Michel Niemeyer tauchte frei vor Himmelmann auf und ließ diesem keine Abwehrchance (35.). Diesmal zählte der Treffer, der unter gütiger Beihilfe durch den sichtbar beeinträchtigten Zander ermöglicht wurde. Zur Pause wurde der Youngster mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ausgewechselt.
St. Pauli konnte sich in dieser Phase bei seinem Schlussmann bedanken, dass es mit einem aus Sicht der Hamburger glücklichen 1:1 in die Kabine ging. Himmelmann rettete gegen Magdeburgs Aufstiegshelden Türpitz, der erneut von der Abwehr der Kiezkicker viel zu viel Freiraum bekam (42.). „Wir haben in der ersten Halbzeit nicht stattgefunden, wir hatten der Wucht und der Aggressivität des Gegners nichts entgegenzusetzen", kritisierte Trainer Kauczinski.
Doppelpack von Diamantakos
Nach dem Seitenwechsel gewann die Nehrig-Show an Fahrt. Zunächst holte der kampfstarke Profi einen Elfmeter heraus, den Knoll sicher verwandelte (59.). Dann spielte der eigentlich nicht für seine filigranen Pässe bekannte Sechser Stürmer Dimitrios Diamantakos mustergültig in den Lauf. Der Grieche spielte seine Geschwindigkeitsvorteile aus, kreuzte seinen Laufweg geschickt und behielt vor Magdeburgs Schlussmann Alexander Brunst, einem Ex-HSVer, die Nerven (63.). 3:1 nach drei Chancen, die jeweils eiskalt genutzt wurden – es war die Entscheidung.
16:7-Torschüsse und 60:40 Prozent Ballbesitz reichten Magdeburg nicht, um eine hohe Niederlage zu verhindern. „Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich St. Pauli mag. Ich wünsche dem Club alles Gute im Rennen um den möglichen Aufstieg", sagte der frühere HSV-Coach Oenning, der mit Magdeburg auf einem Abstiegsplatz überwintert.
Den Schlusspunkt setzte erneut der schon früh im Spiel für den vermutlich schwer am Knie verletzten Henk Veerman eingewechselte Diamantakos nach exzellenter Vorarbeit durch Sami Allagui (93.). Wenn Nehrig nicht schon ausgewechselt worden wäre, wäre er wohl auch an diesem Tor irgendwie beteiligt gewesen.
Die Statistik
St. Pauli: Himmelmann - Zander (46. Carstens), Ziereis, Avevor, Kalla - Knoll, Nehrig (77. Zehir) - Miyaichi, Möller Daehli - Allagui, Veerman (35. Diamantakos). - Trainer: Kauczinski
Magdeburg: Brunst - Tobias Müller, Bregerie, Erdmann - Bülter, Laprevotte (71. Rother), Preißinger, Niemeyer (80. Hammann) - Türpitz (70. Costly) - Lohkemper, Beck. - Trainer: Oenning
Schiedsrichter: Daniel Schlager (Hügelsheim)
Tore: 1:0 Nehrig (16.), 1:1 Niemeyer (35.), 2:1 Knoll (59., Foulelfmeter), 3:1 Diamantakos (63.), 4:1 Diamantakos (90.+3)
Zuschauer: 29.546 (ausverkauft)
Gelbe Karten: Veerman (3), Nehrig (2), Diamantakos (2) - Erdmann (6), Brunst, Costly (2)
Torschüsse: 7:16
Ecken: 2:6
Ballbesitz: 40:60 %