Hamburg. St. Paulis ehemaliger Trainer Holger Stanislawski spricht über das bisher letzte Derby 2011 und ein mögliches Engagement beim HSV.
Ob er sich das Spiel am Sonntag live im Stadion anschaut? „Kann sein, dass ich da auftauche“, sagt Holger Stanislawski lächelnd. 2011 führte der 49-Jährige den FC St. Pauli zum 1:0-Sieg im Volksparkstadion. Und auch im REWE-Center in der Dorotheenstraße, das er mit dem ehemaligen HSV-Profi Alexander Laas führt, ist das anstehende Derby das Gesprächsthema.
Herr Stanislawski, was ist Ihnen aus dem Derby 2011 am intensivsten in Erinnerung geblieben?
Holger Stanislawski: Es waren ja besondere Voraussetzungen. St. Pauli hatte seit 1977 nicht mehr gegen den HSV gewonnen. Die meisten Leute, die sich noch daran erinnern können, sind heute mit dem Gehwagen unterwegs. Dann kam mir die Idee, etwas zu ändern und Benedikt Pliquett ins Tor zu stellen, also unseren damals dritten Torwart.
Wie kamen Sie zu dieser anscheinend absurden Idee? Die Spiele davor waren sehr erfolgreich verlaufen.
Stanislawski: Klar habe ich mir Gedanken gemacht, was die Konsequenz für mich wäre, wenn es schiefgeht. Aber es wäre ja nur passiert, dass wir ein weiteres Mal gegen den HSV nicht gewonnen hätten. Man muss einfach bereit sein, mal einen anderen Weg zu gehen und ein Risiko in Kauf nehmen – auch auf die Gefahr hin, dass man mal vorn im Wind steht.
Sie haben diesem Spiel damit also ganz bewusst eine andere Bedeutung beigemessen als den anderen Ligaspielen.
Stanislawski: Ich habe es nie so gesehen, dass das Derby gegen den HSV ein Spiel wie jedes andere ist, nach dem Motto: Es geht ja nur um drei Punkte geht. Quatsch! Ein Derby ist wie ein Pokalfinale und nicht wie ein Spiel gegen Fürth.
Dennoch hatte niemand auch nur ansatzweise für möglich gehalten, dass Sie in diesem Spiel Stammtorwart Thomas Kessler nicht einsetzen. Wie waren die Reaktionen?
Stanislawski: Ich stand noch unten am Stadion an der Buseinfahrt, die Jungs waren schon in der Kabine. Dort habe ich noch eine gedampft und mit den Journalisten geplaudert. Natürlich fragten sie mich, ob ich bei der Aufstellung etwas ändere. Ich habe dann gesagt, dass Bene im Tor stehen wird. Dann sagten alle: Ha, ha, toller Scherz. Kurz danach kam dann der Zettel mit der Aufstellung raus ...
Wie wir wissen, ging der Plan voll auf, Pliquett blieb ohne Gegentor.
Stanislawski: Ja, zum Glück stand er immer richtig. Er wurde auch mehrfach angeschossen und hat ein paarmal gut reagiert. Es war ja kein Sieg, der hochverdient gewesen wäre. Es war zwar vom HSV kein besonders gutes Spiel, aber er hatte mehr Chancen. Aber wir hatten eben dieses kleine Quäntchen Glück, das man sich vielleicht auch verdient, wenn man bereit bist, ein gewisses Risiko zu gehen.
Nach diesem Sieg hatte St. Pauli 28 Punkte aus 22 Spielen auf dem Konto, war Tabellenelfter und mit elf Punkten aus fünf Spielen sogar Erster der Rückrundentabelle. Der Klassenverbleib schien praktisch sicher. Dann aber gab es aus den letzten zwölf Spielen nur noch einen einzigen Punkt, St. Pauli stieg wieder mal als Tabellen-18. ab. Was ist nach diesem Derbysieg passiert? Wurde zu lange gefeiert?
Stanislawski: Nein, es hat uns das Genick gebrochen, dass aus unserer Vierer-Abwehrkette drei Spieler ganz lange ausgefallen sind, Linksverteidiger Bastian Oczipka, Innenverteidiger Carlos Zambrano und Rechtsverteidiger Carsten Rothenbach. Das war mit unseren Möglichkeiten damals nicht zu kompensieren. Wir haben damals nicht groß gejammert, weil man ja die anderen, die dann spielen, stark reden muss. Aber das war entscheidend.
Nach dem Derby ging es nach Dortmund. Dort gab es ein 0:2, es hätte aber leicht noch eine viel höhere Niederlage geben können.
Stanislawski: Schlimmer war noch, dass unser Stürmer Richard Sukuta-Pasu in der Halbzeit mit einem getauschten Trikot von Marco Reus in die Kabine kam. Da flippst du als Trainer natürlich aus und musst den Jungs sagen, dass das hier keine Kaffeefahrt ist.
In der Zeit sickerte aber auch durch, dass Sie den FC St. Pauli im Sommer verlassen werden. Hatte das nicht auch eine entscheidende mentale Auswirkung auf die Mannschaft, die Sie ja von der Regionalliga bis in die Bundesliga geführt hatten?
Stanislawski: Glaube ich nicht. Wir waren ja so fest verwachsen über die Jahre hinweg und haben uns nur punktuell verändert. Vielleicht hat es den einen oder anderen ein paar Tage beschäftigt, mehr nicht.
Wissen Sie noch, wie Sie nach dem Derby den Sieg gefeiert haben?
Stanislawski: Wissen Sie, ich habe eine Woche lang dieses Spiel in Gedanken mit verschiedenen Szenarien durchgespielt. Wie ist es, wenn wir führen, wenn wir in Rückstand geraten, wenn wir in Unterzahl spielen müssen. Nachts bin ich aufgestanden, habe eine Kanne Kaffee gekocht und noch mal ein Video reingeschoben und analysiert. Danach fiel einfach nur eine Last ab. Ich saß mit meinem Co-Trainer André Trulsen noch ein bisschen länger in der Kabine, habe den Sieg genossen – und bin dann nach Hause gefahren.
Aber die Spieler haben doch sicher gefeiert.
Stanislawski: Wir haben den Jungs natürlich gesagt: Denkt dran, dass wir am Wochenende wieder ein Spiel haben. Aber du kannst denen ja sagen, was du willst, die gehen sowieso noch raus. Das sollen sie ja auch. Leider werden heute manche Sachen so wichtig gemacht. Wenn ich sehe, dass Spieler manchmal drei Tage vor einem Spiel nichts mehr sagen dürfen ... Wir müssen es nicht wichtiger machen als es ist. Bei einem Formel-1-Rennen halten die drei Minuten vor dem Start noch das Mikro rein. Da hat der Fahrer den Helm schon runter und sieht sich mit 320 Sachen in der nächsten Kurve, sagt aber noch drei Sätze. Ich bin damals jedenfalls nicht die Kneipen abgefahren, um nach Spielern zu fahnden.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Stadtderbys gegen den HSV als Spieler?
Stanislawski: Es waren sechs Spiele, wir haben keines gewonnen, es gab nur ein paar Unentschieden. Aber ein Tor habe ich erzielt im alten Volksparkstadion. Das war für mich ein besonderer Moment. Da habe ich ja früher als kleines Kind öfter zugeguckt, als Horst Hrubesch, Felix Magath und Manfred Kaltz gespielt haben. Und immer wieder hat sich Manni auf den Ball geworfen, um einen Freistoß zu bekommen. Zu 50 Prozent hat das geklappt, der Freistoß kam zu Hrubesch, und der hat ins Tor geköpft.
Sie haben in der A-Jugend ja selbst auch für den HSV gespielt. Warum sind Sie nicht dort Profi geworden?
Stanislawski: Wir sind mit der A-Jugend norddeutscher Meister geworden und erst im Halbfinale um die deutsche Meisterschaft am Karlsruher SC gescheitert. Da haben Kahn und Scholl gespielt. Danach war ich ein Jahr bei den HSV-Amateuren und bin in die dritthöchste Liga aufgestiegen. Dann aber hatte ich mich ein bisschen mit Trainer Gerd-Volker Schock in der Wolle und bin gegangen. Für mich war da das Thema Profifußball passé, und ich bin zu Barsbüttel gewechselt und habe eine Ausbildung zum Masseur absolviert. Durch die Hintertür bin ich dann über Concordia zu St. Pauli gekommen. Ich war aber auch beim Probetraining in Leverkusen, Stuttgart und Rostock.
Hat es nach Ihrer Trainerzeit bei St. Pauli irgendwann auch eine Chance gegeben, zum HSV zurückzukehren?
Stanislawski: Ja, und zwar gab es direkt danach wohl eine Möglichkeit. Jedenfalls wollte der HSV mal ausgiebig mit mir reden. Das habe ich aber abgelehnt, weil es einfach nicht ging, so direkt von St. Pauli zum HSV zu gehen. Das wäre für beide Seiten nicht gut gewesen und so, als wenn ich hier rausgehe und einen Edeka-Markt aufmache. Jetzt wäre es eine andere Situation nach so vielen Jahren und anderen Clubs danach.
Was hat der FC St. Pauli nach dem Abstieg 2011 versäumt, um schnell wieder aufzusteigen?
Stanislawski: Es ist wirklich schade, dass der Verein bisher so wenig daraus gemacht hat, dass er finanziell ein Vorzeigeclub ist und in der Zweiten Liga richtig gute Möglichkeiten hat. Die schwankenden Leistungen haben vielleicht etwas mit den Personalwechseln zu tun und der fehlenden Konstanz in der Spielphilosophie. Unverständlich war für mich die eklatante Heimschwäche in den vergangenen Jahren bei so einem Stadion, das immer voll ist. Es mangelte oft daran, dass die Zuschauer vom Team mitgenommen wurden. Die Fans sind ja sofort da, wenn man mit Mut und Leidenschaft spielt. Aber wenn vom Anstoß der Ball quer, zurück und zum Torwart gespielt wird, der dann lang vorn bolzt, flippe ich aus. Das ist aber nicht nur ein Phänomen bei St. Pauli. Lass doch die Spieler einfach mal von der Kette! Dann steht auch das Stadion dahinter.
Wie geht das Derby am Sonntag aus?
Stanislawski: Ich hoffe, dass es ruhig bleibt, damit sich Hamburg mal wieder von einer richtigen Sportseite zeigt. Beide Fanlager sollen supporten, was das Zeug hält. Und dann soll es ein schönes 2:2 geben.
Wie sehen Sie grundsätzlich die Entwicklung des Fußballs und der Taktik?
Stanislawski: Ich habe ja während meiner Tätigkeit für das ZDF Hunderte von Spielen analysiert. Der Trend geht leider dahin, dass der Fußball immer kontrollierter wird und ganz viel auf Sicherheit bedacht ist. Ich freue mich über Spiele wie das 5:3 von Paderborn in Köln. Da geht mir das Herz auf. Andererseits schalte ich inzwischen auch schon weg, wenn ich nur so ein Ballgeschiebe sehe. Wir sollten uns bewusst werden, dass die Zuschauer heute verdammt viel Geld zahlen und eine ordentliche Dienstleistung erwarten dürfen. Das ist so ähnlich wie bei mir hier im Supermarkt.
Wo landen beide Hamburger Clubs?
Stanislawski: Oft reicht es in der Zweiten Liga, wenn man eine gewisse Konstanz hat. Vorn braucht man einen, der 15 bis 20 Tore schießt. Dazu ist Pierre-Michel Lasogga, den ich übrigens gerade neulich hier im Laden getroffen habe, absolut in der Lage. Deshalb glaube ich, dass der HSV einen der ersten drei Plätze belegen wird. Für St. Pauli würde ich mir Platz drei wünschen. Das Team ist ja keine schlechte Truppe, kennt sich seit Jahren. Da sollte man die Zügel lockern und das Team Vollgas spielen lassen.
Was muss passieren, damit Sie wieder irgendwo auf der Trainerbank sitzen?
Stanislawski: Anfragen kommen ja regelmäßig. Kein Gespräch macht einen dümmer. Aber es muss noch einmal so richtig passen. Die Liga ist egal. Es muss eine klare Vision geben, und ich muss spüren, dass man auf einer Wellenlänge ist.
Nichts ist schlimmer, als mit dem Ruderboot durch den Nebel zu fahren und zu hoffen, irgendwo an Land zu kommen.