Als er die Bayern abschoss, war er ganz oben. Als Zocker landete er ganz unten. Jetzt fängt Nico Patschinski von vorne an – mal wieder.

Es gibt da diesen Film. Russell Crowe spielte 2005 den Boxer James J. Braddock aus New Jersey, der Ende der 20er-­Jahre von Erfolg zu Erfolg eilte und mit seiner Frau und den drei Kindern in einer Villa lebte. Doch 1933 verlor Braddock seine Boxlizenz und verarmte. Mitten in der Weltwirtschaftskrise musste er als Dockarbeiter um das Existenzminimum für seine Familie kämpfen. Durch einen glücklichen Zufall durfte er wieder in den Ring zurückkehren – und gewann völlig überraschend. Ein paar Siege später holte sich der Boxer in einem legendären Duell sogar den Weltmeistertitel. „Du hast nur diesen Kampf, lass dir das nicht nehmen, tue es für deine Kinder!“, brüllte ihn sein Trainer in einer Rundenpause an.

„The Cinderella Man“, Aschenputtel-Mann, taufte die US-Presse damals den echten Braddock, weil dieser Boxer wie aus einem Märchenschlaf erwachte, und so lautete auch der Originaltitel des Films. In Deutschland wählte die Produktionsfirma den schlichteren Namen „Das Comeback“.

Nico Patschinski liebt diesen Film. „Mindestens zweimal pro Woche“, schätzt er, zieht er sich das Sportdrama rein, alleine in seiner Einzimmerwohnung in Eidelstedt. Als wolle er sich eintrichtern: Es gibt immer eine zweite Chance. Oder eine dritte.

Patschinski war immer eine Frohnatur, ein Spaßfußballer

Wir hatten uns über die Jahre aus den Augen verloren. Doch beim Wiedersehen im Fisch-Restaurant Daniel Wischer in der Innenstadt ist alles wie auf Knopfdruck sofort wieder präsent. Patschinski, der Torjäger des FC St. Pauli, der mit einer Low-Budget-Truppe 2001 in die Bundesliga aufstieg. Ein kleines Fußball-Wunder. Der Rückflug im Charter von Nürnberg, die Feier auf dem Heiligengeistfeld mit Zehntausenden St.-Pauli-Fans. Ein einziger Rausch.

Am 6. Februar 2002 triumphierte der kleine FC St. Pauli über Bayern München Nico Patschinski schob vor der Pause aus kurzer Distanz an Oliver Kahn vorbei zum 2:0 ein. Dann drehte er eine Ehrenrunde – mit einer Banane, die für Oliver Kahn bestimmt war
Am 6. Februar 2002 triumphierte der kleine FC St. Pauli über Bayern München Nico Patschinski schob vor der Pause aus kurzer Distanz an Oliver Kahn vorbei zum 2:0 ein. Dann drehte er eine Ehrenrunde – mit einer Banane, die für Oliver Kahn bestimmt war © picture-alliance/Sven Simon

Der gebürtige Ost-Berliner war keiner, der Interna aus der Kabine ausplauderte, der aber einen lockeren, ungezwungenen Umgang mit uns Journalisten pflegte. „Ohne Spaß kann ich nicht Fußball spielen“, lautete stets sein Motto. Und dazu gehörte schon auch mal eine gemeinsame private Poker- und Würfelrunde im völlig verrauchten Spielerzimmer während des Trainingslagers im spanischen La Manga oder der Besuch des Spielcasinos im Mannschaftshotel.

Mann, was haben wir früher gelacht. Patschinski war immer ein Typ zum Pferdestehlen, sein Spaßvogel-Image pflegte er mit kessen Sprüchen vor den TV-Kameras. Als er nach einem Dreierpack einmal gefragt wurde, ob er schon mit seinem Vater telefoniert habe, antwortete er: „Wird schwer, der wird blitzeblau sein. Er trinkt nach jedem Tor von mir einen Whiskey.”

Zuletzt arbeitete er zwei Jahre als Bestatter

Doch der Grund für unser Treffen ist ein anderer. Am 6. Februar hatte Patschinski mit dem bestandenen Bus-Führerschein sein Ticket für den Einstieg in sein neues Berufsleben erhalten. Und sofort lief die Medienmaschine auf Hochtouren, weil einer wie er schon häufiger aus dem Raster gefallen ist. Nach seiner Karriere als Fußballer jobbte er in einem Catering-Unternehmen, fuhr für die Post und DPD Pakete aus und arbeitete zuletzt zwei Jahre als Bestatter.

Der Job brachte ihn sogar zurück ins Fernsehen. Während der EM 2016 engagierte ihn Moderator Reinhold Beckmann im Paket mit Ex-Torwart Tim Wiese für die Klamauk-Einlagen („Beckmanns Sportschule“). Tatsächlich hat Patschinski den Bestatter-Job ernsthaft ausgeübt. „Ich habe wirklich alles gemacht. Die Menschen abgeholt, sie sauber gemacht, Reden gehalten, die Urne versenkt. Da habe ich gemerkt, was wichtig ist.“ Weil eine unbefristete Anstellung nicht möglich war, ging man in Freundschaft auseinander.

Jetzt also Busfahrer

Ein Kicker, der es bis in die Bundesliga schaffte und der finanziell ein gemachter Mann sein müsste, setzt sich mit 41 Jahren hinter das Steuer, um für ein Einstiegsgehalt von 2365 Euro brutto künftig die Hamburger durch die Stadt zu kutschieren – wenn es sein muss, auch HSV-Fans in den Volkspark.

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Die Frage drängt sich auf: Was ist da schiefgelaufen? Pa­tschinski sieht das anders: „Ich fahre gerne Auto, also habe ich mich beworben. Und ich muss was machen, was bis zur Rente reicht. In diesem Job habe ich die Riesenchance, noch mal ganz von vorne anzufangen, alles auf null zu stellen.“ 50 Strecken musste er auswendig lernen, derzeit ist er noch mit einem Lehrfahrer unterwegs.

Patschinski siegte mit dem kleinen FC St. Pauli über die Bayern

Auf 100 war Patschinski vor 16 Jahren. Einen Titel wie der oben erwähnte Boxer Braddock hat Patschinski als Fußballer nie gewonnen, aber manchmal genügen ein Tor und ein Sieg, um sich sportlich unsterblich zu machen. Am 6. Februar 2002 triumphierte der kleine FC St. Pauli 2:1 über den FC Bayern München – bis heute der einzige Sieg in der Bundesliga am Millerntor über den deutschen Rekordmeister. Wer die Partie an diesem schmuddeligen Mittwochabend im Stadion live miterleben durfte, wird es nie vergessen – Ecke Christian Rahn, Verlängerung Marcel Rath, Patschinski schob vor der Pause aus kurzer Distanz an Oliver Kahn vorbei zum 2:0 ein.

Patschinski, damals noch mit blondierten Haaren unterwegs, sprintete spontan nach seinem Treffer zur Ersatzbank und setzte sich auf den Stuhl des damaligen Trainers Dietmar Demuth. „Seine Ansprache vor dem Anpfiff fand ich ganz witzig“, erinnert sich der ehemalige Stürmer, „er hatte uns aufgefordert, den Gegner durch ständiges Toreschießen zu zermürben. Bei den Bayern eine durchaus einleuchtende Taktik ...“

In der feuchtfröhlichen Nacht nach dem glorreichen 2:1 landete auch die Marketingabteilung einen Coup. Da die Bayern als frisch dekorierter Weltpokalsieger angereist waren, brachte der Club nur einige Tage später ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Weltpokalsiegerbesieger“ auf den Markt, das sich über 100.000-mal verkaufte. Auch noch Jahre später ist dieses legendäre Spiel präsent. Zum Jubiläum trafen sich 2012 rund 700 St. Paulianer im Knust, ließen sich von Stadionsprecher Rainer Wulff noch einmal die Aufstellungen vorlesen und genossen das Spiel in voller Länge. Interviewpartner zur Pause auf der Bühne, na klar: „Patsche“.

Über sein größtes Spiel gegen Bayern spricht er immer gerne

Bis heute genießt er es, wenn er auf das Weltpokalsiegerbesieger-Match angesprochen wird („Ist doch toll, wenn sich die Leute daran erinnern“). Dabei markiert ausgerechnet dieser Abend einen Wendepunkt in seinem Leben.

Trotz des Erfolgs gegen die Bayern stieg St. Pauli sang- und klanglos als Tabellenletzter aus der Bundesliga ab und in der Saison darauf auch noch aus der Zweiten Liga. Patschinski wechselte 2003 zu Eintracht Trier, wo er im zweiten Jahr ebenfalls nicht die Klasse halten konnte. Bei LR Ahlen passierte ihm 2006 das gleiche Missgeschick – der vierte Abstieg in fünf Spielzeiten. Ein Albtraum.

Schnell hatte er das Image des Spielsüchtigen weg

Verdient hat Patschinski in jener Zeit ordentlich, aber nicht im Übermaß wie die Profis heute. „6000 Mark Grundgehalt waren es bei St. Pauli in der Zweiten Liga plus Prämien“, erinnert sich Patschinski. „In der Bundesliga stieg die Summe auf 12.000 Mark.“ Läuft, dachte sich der Mittelstürmer und ließ bei der Suche nach dem Lebensglück auch die Spielbanken nicht aus, wo Sieg und Niederlage im Poker oder Roulette ähnliche Adrenalinschübe ausüben konnten wie bei einem Tor.

„Ich ging nie mit der EC-Karte los, sondern nur mit Bargeld. 900 Euro in der rechten Tasche, 100 Euro in der linken für Getränke und Taxi. Ich musste ja irgendwie nach Hause kommen.“ Geheim blieb das nicht lange. Schnell hatte er das Image des Spielsüchtigen weg. In Ahlen flog eine private Pokerrunde auf, weil seine Mitzocker die Spielschulden beim Training eintreiben wollten. Dabei sollte Patschinski betrogen werden – plötzlich waren fünf Asse im Spiel.

2006 ließ er sich bundesweit bei allen Spielbanken sperren

Jahre später fuhr Patschinski zu seinen Eltern nach Berlin, wo die Kontoauszüge lagerten und rechnete aus, was ihn die Casinotrips, Sportwetten im Internet, Automatenspiele und Online-Poker gekostet haben. „Investiert habe ich sicher 50.000 Euro, aber ab und zu auch höhere Summen gewonnen“, erinnert er sich. „Wenn ich 20.000 Euro gegenrechne, lande ich bei 30.000.“ Eine überschaubare Summe, findet Pa­tschinski. „Wenn jemand regelmäßig in den Puff geht, ist er auch schnell 30.000 los.“ 2006 ließ er sich bundesweit bei allen Spielbanken sperren.

Dass ihm das Geld zwischen den Fingern zerronn, hatte auch andere Gründe. Als ein erst sechs Wochen alter Neuwagen nach einem Unfall einen Totalschaden erlitt, zahlte die Versicherung nicht. Über den Grund schweigt Patschinski in der Öffentlichkeit.

Bei Union ging es sportlich bergauf

Nach dem Erwerb von zwei Eigentumswohnungen kaufte sich Patschinski nach seinem Wechsel zu Union Berlin (2006), wo er in der damals drittklassigen Regionalliga spielte, auch noch ein Haus im brandenburgischen Wandlitz für seine Frau, eine ehemalige Eiskunstläuferin, und Sohn Pete (benannte nach dem Tennisstar Pete Sampras). Die Hälfte bezahlte er in bar, der Rest lief über eine Finanzierung – mit Raten, die er später nicht mehr begleichen konnte.

Bei Union ging es sportlich bergauf. Nach der Qualifikation für die neue Dritte Liga 2008 spielte der Club auch in der Folgesaison oben mit. Doch bei der Aufstiegsfeier der Berliner in die Zweite Liga fehlte Patschinski – der Verein hatte seinen Vertrag im April 2009 aufgelöst. Auslöser war seine Teilnahme an einem Benefizpokerturnier für die Jugendabteilung des BFC Dynamo, für die er 5000 Euro Strafe zahlen sollte. Es ging vor Gericht, und den Prozess gewann Pa­tschinski, doch sein Zockerimage wurde er nicht mehr los.

Dann geriet sein Privatleben aus den Fugen

Der 32-Jährige schloss sich dem BFC Dynamo an, einem Oberligaverein, fünfte Liga. Die Karriere austrudeln lassen, nennt sich das gewöhnlich. Doch dann geriet im Winter sein Privatleben aus den Fugen. Patschinski erwischte seine Frau mit einem anderen Mann, die Ehe zerbrach. Ein K.-o.-Schlag. „Mein Leben war am Ende, ich sah keinen Sinn mehr.“

Doch bald kam er wieder auf die Beine, und auch vom Fußball hatte Patschinski noch längst nicht genug. Über Trier (2010) und Neunkirchen (2011) kam er 2012 zurück nach Hamburg, wo er für den SC Victoria und Niendorf in der Oberliga die Stiefel schnürte. 2015 schließlich der Wechsel in die Kreisliga nach Schnelsen als Spielertrainer. Seine letzte Station 2016 für zwei Spiele: SC Empelde, Kreisklasse 2 – Hannover Land. Ein Freundschaftsdienst für den Chef des Clubs.

Patschinski ist nicht alleine mit seinem Schicksal. Pleite oder überschuldet nach der Karriere, das betrifft 20 bis 25 Prozent aller Spieler, hat der Verband der Vertragsfußballer einmal berechnet. Und doch unterscheidet er sich mit seinem Lebensmut wohl von vielen anderen Menschen. Die Trennung von seiner letzten Lebensgefährtin, mit der er ebenfalls zwei Kinder hat, schüttelte ihn 2017 noch einmal ordentlich durch. Die Hilfe eines Psychologen („Da machte es klick“) hat jedoch geholfen. Er hat klare Regeln für sich aufgestellt, auch was sein „Hobby“ angeht, auf das er noch nicht komplett verzichten will. Drei Euro pro Fußballtipp, das gönnt sich Patschinski. „100 Euro im Monat, mehr will ich nicht sinnlos verballern.“

Für Geld macht er nicht alles – das Dschungelcamp lehnt er ab

Wir bestellen Cappuccino. Patschinski wird gleich zum Millerntor gehen, sich ein Spiel seines Ex-Clubs anschauen. Ob er neidisch ist auf die Gehälter von heute? „Nicht im Geringsten. Auch wenn es doof klingt: Früher war es schöner. Für kein Geld würde ich das eintauschen wollen, was ich damals erlebt habe. Die können öffentlich ja nicht mal mehr in Ruhe eine Zigarette rauchen.“ Und für Geld macht er heute längst nicht alles. Ein Angebot, in das RTL-Dschungelcamp einzuziehen, wo man bevorzugt gefallene Fußballhelden wie Eike Immel oder Ansgar Brinkmann vorführt, lehnte er ab. Dabei würde er mit seinem komischen Talent und seinem Sprachwitz ganz sicher die Herzen der TV-Zuschauer gewinnen und hätte Siegchancen.

Nein, lieber denkt Patschinski an die Unterstützung, die er in der schweren Zeit erfahren hat, auch finanzielle. „Sogar die Mutter meiner Ex-Freundin hat mir toll geholfen, davor habe ich großen Respekt.“ Er meint es ernst mit dem Neuanfang. Busfahrer, das soll es jetzt erst mal sein („Bitte nicht bald wieder einen Wechsel“). Und wer weiß, vielleicht führt ihn der Weg ja so wieder einmal zurück in den Fußball – als Zeugwart. „Das würde mich tatsächlich reizen. Es können ja nicht alle Trainer oder Manager werden nach ihrer aktiven Karriere.“

Es schmerzt, ohne Familie leben zu leben

Viel mehr schmerzt es ihn, ohne Familie leben zu müssen. „Das tut schon ein bisschen weh, ein ekliges Gefühl“, gibt er zu und erinnert sich an einen Spruch, den er kürzlich aufgeschnappt hat. „Die Leute, die es nicht nötig haben, suchen die Schuld immer bei sich. Die es nötig haben, suchen die Schuld nie bei sich.“

Patschinski scheint kapiert zu haben, was fast so viel wert ist wie der Gewinn eines Titels. Aber zur Sicherheit wird er sich bald wieder das Boxer-Epos um James J. Braddock anschauen. Vielleicht schon heute Abend.