Hamburg. Der Leiter der Lizenzspielerabteilung bei Union Berlin spricht über seinen Ex-Club und nächsten Gegner FC St. Pauli.
Zwischen 1984 und 2012 war Helmut Schulte (60) dreimal jeweils über mehrere Jahre für den FC St. Pauli als Trainer und Sportchef tätig. 1988 gelang ihm mit St. Pauli als Cheftrainer der Aufstieg in die Bundesliga, was ihm dazu verhalf, eine Kultfigur beim Kiezclub zu werden. Seit dem vergangenen Jahr ist er für den 1. FC Union Berlin als Leiter der Lizenzspielerabteilung tätig.
An diesem Sonnabend (13 Uhr) treffen die Zweitligateams beider Clubs in Berlin aufeinander. Im Abendblatt spricht Schulte über die Bedeutung des Spiels, seine Ziele und Gefühle bei den jüngsten schweren Stürmen. Im Januar 2007 wurde er schwer verletzt und lag danach im Koma, als ein vom Orkan „Kyrill“ entwurzelter Baum auf sein Auto gefallen war.
Welche Emotionen haben Sie vor dem Spiel am Sonnabend? Ist das noch ein besonderes Spiel?
Helmut Schulte: Die Zeit beim FC St. Pauli war viel zu lang und viel zu intensiv, als dass es ein Spiel wie jedes andere für mich sein könnte. Es wird immer eine besondere, herausgehobene Begegnung sein – egal, ob am Millerntor oder bei dem Verein, bei dem ich gerade arbeite. Es nimmt mich emotional noch immer mehr mit als jedes andere Spiel.
Was erwarten Sie speziell von der Begegnung am Sonnabend?
Schulte: Es ist ein Verfolgerduell, es wird ein tolles Spiel in einem ausverkauften Stadion. Union gegen St. Pauli ist sowieso immer – ganz egal, mit welchem Tabellenstand und in welchem der beiden Stadien – eine ganz besondere Konstellation. Jetzt kommt dazu, dass der Gewinner oben dranbleibt und der Verlierer erst einmal einen Rückschlag erleidet im Kampf um die ersten drei Plätze.
Verfolgen Sie den FC St. Pauli im Laufe der Saison intensiver als andere interessante Clubs der Liga?
Schulte: Ich war zwar in dieser Saison noch nicht am Millerntor, aber bei den Spielen in Bochum und in Braunschweig. Klar ist aber, dass ich bei St. Pauli schon noch genauer hinsehe, auch wenn immer weniger Spieler da sind, mit denen ich noch direkt zu tun hatte. Es sind nur noch Jan-Philipp Kalla und Lasse Sobiech. Mein letzter Abschied vom Millerntor war vor gut fünf Jahren. Das ist im Profifußball mittlerweile eine wahnsinnig lange Zeit. Da bleibt kein Personalbaustein auf dem anderen. Wenn irgendwas an Beständigkeit gewonnen hat, ist es der Wechsel des Personals.
Wie haben Sie die Achterbahnfahrt des FC St. Pauli in der vergangenen Saison wahrgenommen, als das Team nach 14 Spieltagen mit sechs Punkten abgeschlagen Letzter war und am Ende mit einer Rekordrückrunde noch Siebter geworden ist?
Schulte: Für mich war das „Das Wunder vom Millerntor“ in Anlehnung an das Fußballmärchen „Das Wunder von Castel di Sangro“. Wenn man nach so einer Negativserie in der Hinrunde noch den Klassenerhalt und sogar den Sprung in die obere Tabellenhälfte schafft, kann man davor nur den Hut ziehen. Damit hatte ich nicht mehr gerechnet, vielmehr hatte ich schon das Schlimmste befürchtet.
Einziger Verlierer war Sportchef Thomas Meggle, der vor einem Jahr gehen musste und der zu Ihrer Zeit als Sportchef bei St. Pauli schon erste Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt hat.
Schulte: Diese Entscheidung will ich von außen nicht kommentieren. Es hat mir ganz persönlich leid getan für Thomas Meggle, weil ich ihn auch für einen guten Mann halte. Wir haben damals, als er Spieler war, oft zusammengesessen und darüber gesprochen, was für ihn der richtige Weg nach der Spielerkarriere ist. Er hat nun Erfahrung als Trainer und Manager gemacht. Man weiß im Fußball, dass man sich manchmal auch trennen muss. Das tut beim ersten Mal besonders weh. Daraus muss man lernen. Auch wenn es abgegriffen klingt, ist es doch so: Wenn irgendwo ein Fenster zugeht, geht anderswo eine Tür auf.
Wie groß war bei Ihrem Club die Enttäuschung darüber, dass Sie in der vergangenen Saison als Vierter den Bundesligaaufstieg knapp verpasst haben?
Schulte: Nach dem guten Spiel und dem 2:1-Sieg im März beim FC St. Pauli haben wir es nicht hinbekommen, das hohe Niveau zu halten und damit auch gut umzugehen, dass wir zwischenzeitlich Erster waren. Dazu kamen dann noch Verletzungen und Sperren. Letztlich hat es uns im letzten Drittel der Saison ein wenig an Qualität gefehlt. Das sollte uns in dieser Saison nicht wieder passieren.
Sie gehen offensiv mit dem Ziel Aufstieg um, allerdings hat Ihr Team in dieser Saison auch schon ein paar Punkte liegen gelassen. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation?
Schulte: Wir sind in der Spur, im Großen und Ganzen haben wir die letzten Spiele erfolgreich bestritten, auch wenn wir zuletzt in Duisburg durch das späte Gegentor zwei Punkte eingebüßt haben. Uns tut noch ein bisschen weh, dass wir am Anfang der Saison aus fünf Spielen nur drei Punkte geholt haben. Wir waren in der vergangenen Saison Vierter, was die beste Platzierung des Clubs in der Zweiten Liga war. Jetzt ist die Herausforderung ganz klar, es noch etwas besser zu machen. Grundsätzlich ist unser Ziel, uns unter die besten 20 Vereine in Deutschland zu entwickeln. Das bezieht sich nicht nur auf den Tabellenplatz, sondern auch auf die Zahl der Mitglieder, den Etat, die Infrastruktur, das Stadion und die Stadionauslastung. Das ist ein klarer Wille bei uns, aber kein absolutes Muss. Ich denke auch, dass es ein realistisches Ziel ist.
Es haben in den vergangenen Wochen wieder einige schwere Stürme über Deutschland getobt, die auch Todesopfer gefordert haben. Wie sehr berühren Sie vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrung vor gut zehn Jahren diese Nachrichten?
Schulte: Natürlich erinnere ich mich dann immer wieder an die damalige Zeit und den Orkan „Kyrill“. Aber grundsätzlich spielt das keine große Rolle mehr. Ich habe diese Erfahrung abgehakt. Wenn ich heute allerdings im Fernsehen oder in der Zeitung ein Bild sehe mit einem Auto, das von einem Baum getroffen worden ist, betrachte ich das natürlich mit anderen Augen als andere. Ich hoffe dann immer, dass niemand in dem Auto saß. Oder wenn doch jemand drin war, dann wünsche ich ihm, dass er so viel Glück hatte wie ich selbst damals. Leider ist das einigen nicht vergönnt. Ich bin aber heute im täglichen Leben nicht ängstlicher, als ich es vorher gewesen bin.
Sie sind am 14. September 60 Jahre alt geworden. Wie fühlt sich das an?
Schulte: An dem Tag, an dem zum ersten Mal die Sechs vorne steht, ist das schon ein komisches Gefühl. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen. Aber ansonsten hat sich im Grunde nichts verändert an meinem Leben.