Hamburg. St. Paulis Geschäftsführer spricht mit dem Abendblatt über den sportlichen Fehlstart und die Finanzen des Zweitligaclubs.
An der Tür seines Büros hängt ein von allen Mitarbeitern unterschriebenes Bild von Schweinchen Schlau, als Türstopper nutzt er ganz unkonventionell eine Kurzhantel. Dabei mangelt es Andreas Rettig nicht an Stärke. Der 53-Jährige gilt in der Fußballszene als Querdenker, der die verbale Konfrontation nicht scheut. Der Geschäftsführer des FC St. Pauli ist ein Mann mit klarer Meinung, der immer auch ein Auge auf die kleinen Vereine hat. Privat fremdelte der gebürtige Leverkusener zunächst mit der eher unterkühlten norddeutschen Mentalität. Bereut hat Rettig den Wechsel in die Hansestadt aber nicht, wenngleich die sportliche Situation bei St. Pauli gerade nicht zu Freudensprüngen veranlasst.
Herr Rettig, zu Ihrem ersten Dienstjubiläum steht der FC St. Pauli mit null Punkten auf Rang 18. Kein schönes Geschenk von Ihrer Mannschaft ...
Andreas Rettig: Dass der Start in die Hose gegangen ist, ist offensichtlich. Die Punkteausbeute deckt sich nicht mit unserem Plan. Aber Sorgen mache ich mir keine. Gefährlich wäre es nur, wenn wir uns die Situation schönreden, dass es ja nur drei Spiele waren, wir gegen drei gute Mannschaften gespielt haben. So gut, wie wir am Ende der vergangenen Saison dastanden (Platz vier, d. Red.), waren wir nicht. Und umgekehrt sind wir jetzt aber auch nicht so schlecht, wie es die Tabelle aussagt. Wir haben über unsere Verhältnisse gespielt und gepunktet – und diese Serie bisher unter unseren Möglichkeiten.
Unabhängig von der aktuellen sportlichen Situation: Wie fällt das Fazit des gebürtigen Leverkuseners Andreas Rettig nach einem Jahr in Hamburg aus?
Es war gefühlt ein äußerst kurzes Jahr, in dem sehr viel passiert ist. Wir haben am Organigramm gearbeitet, die Bereichsleiter sind inzwischen Teil einer erweiterten Geschäftsführung und haben mehr Kompetenzen. Mich hat beim Dienstantritt etwas überrascht, dass Entschluss- und Entscheidungsfreudigkeit hier keine hohe Priorität hatten. Das hat sich positiv geändert. Gefreut hat mich, dass ich einen gewissen Vertrauensvorschuss bekommen habe, auch wenn ich anfangs etwas reserviert empfangen wurde, aber der Rheinländer umarmt halt anders (lacht).
Wie steht der Verein im Spätsommer 2016 wirtschaftlich da?
Es ist so wie im Privatleben: Man sollte nie mehr ausgeben, als man einnimmt. Wir haben noch ungefähr 30 Millionen Euro langfristige Verbindlichkeiten durch den Stadionbau und die Fananleihe in Höhe von acht Millionen Euro. In den Spielzeiten 2015/16 und 2016/17 werden wir über drei Millionen Euro Verbindlichkeiten abgebaut haben. Es gibt keinen Ersatz für wirtschaftliche Vernunft.
Präsident Oke Göttlich betont immer wieder, dass St. Pauli weiter professionalisiert werden muss. Teile der Fans haben die Angst, dass bei dem Prozess die Identität des Clubs verloren geht.
Es gibt keinen Grund für diese Art von Ängsten. Professionalisieren heißt nicht, dass man es ohne Gefühl macht und keine Rücksicht auf die DNA des Clubs nimmt. Das Wort Professionalisierung hört sich im Zusammenhang mit St. Pauli oft zu negativ an. Lassen Sie es mich mit einem Augenzwinkern formulieren: Die Zeit der sympathischen Inkompetenz ist im deutschen Fußball vorbei.
Wie definieren Sie denn den Begriff Professionalisierung?
Für mich bedeutet es, Partnern gegenüber professionell aufzutreten, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit vorzuleben. Es wichtig, sich auf allen Ebenen Vertrauen zu erarbeiten. Für professionelles Arbeiten müssen wir uns nicht schämen.
Sie haben bereits für den SC Freiburg und den FC Augsburg gearbeitet. Beide Clubs werden immer wieder als Vorbilder für andere Clubs genannt. Kann der FC St. Pauli perspektivisch auch ohne Ausgliederung der Profiabteilung in die Rolle dieser Clubs hineinwachsen?
Davon bin ich überzeugt. Aus meiner Sicht ist es nicht entscheidend, in welcher Rechtsform wir uns befinden. Am Ende ist es die Qualität des Managements, die den Unterschied macht. Salopp gesagt bleibt eine Pflaume eine Pflaume, egal ob e. V oder Kapitalgesellschaft. Freiburg ist wirtschaftlich einer der gesündesten Vereine überhaupt. Sie waren immer ein e. V.
Viele Experten sehen den Vorteil, dass man bei einer Ausgliederung den Verein schützt, das wirtschaftliche Risiko vom e. V. anders verteilt.
Das Argument ist zulässig. Natürlich ist es gut, wenn man durch eine unbedachte Aktion nicht das ganze Konstrukt in die Tiefe reißt. Das Verantwortungsbewusstsein der Entscheidungsträger schützt davor aber in erster Linie.
Wie kann man als FC St. Pauli den momentanen Gegebenheiten entgegenwirken? Der Gigantismus im Fußball mit immer höheren Gehältern und Ablösesummen ist allgegenwärtig. Wie schwer ist es, sich davon nicht anstecken zu lassen.
Indem wir uns von den Ergebnissen am Wochenende loslösen. Wir lassen uns nicht treiben und investieren in Dinge, die den Verein für die Zukunft gut aufstellen. Sei es in neue Software, die gut eine Million Euro kostet, sei es ins Stadion für mögliche Drittveranstaltungen. Der Charme allein reicht am Millerntor nicht. Der Besucher hat den Anspruch an den neuesten technischen Stand. Auch der Rückkauf der Merchandisingrechte war ein wichtiger Schritt. Das sind Standbeine, die dazu führen sollen, dass der Fall nicht zu groß wird, wenn es sportlich bergab geht. Das ist für mich Managementqualität. Strukturen zu schaffen, die unabhängig von Personen sind. Der Laden soll weiterlaufen, auch wenn die aktuellen Entscheider nicht mehr da sind.
Sie haben in der Vergangenheit nicht die Konfrontation mit der Deutschen Fußball Liga gescheut. Sie setzen sich für eine fairere Verteilung der Fernsehgelder ein. Rudi Völler nannte Sie „Schweinchen schlau“. Werden Sie weiter der Robin Hood des Fußballs sein?
Nein, darum geht es mir nicht. Wir streben keinerlei Ämter an, und auch für mich als ehemaligen Geschäftsführer der DFL hält sich mein Karrierestreben in engen Grenzen. Ich bin nur der Meinung, dass es ungesund ist, wenn die Schere zwischen Bundesliga und Zweiter Liga immer weiter auseinandergeht. Das Zusammenspiel beider Ligen ist eminent wichtig. 30 Prozent aller Transfers passieren zwischen Bundesliga und Zweiter Liga – in beide Richtungen. Das ist wichtig für die Stabilität des Systems.
Also steckt keinerlei Eigeninteresse hinter ihren Vorstößen?
Nein, überhaupt nicht. Wir gehören in den Bereichen Ticketing und Sponsoring zu den Top vier der Zweiten Liga. Wir könnten uns also ganz entspannt zurücklehnen, und sagen: Okay, dann gibt es eben weniger TV-Gelder. Das steigert dann die Gewichtung der anderen beiden Einnahmesäulen, wo wir gegenüber anderen Vereinen einen Wettbewerbsvorteil haben. Wir haben viel mehr Sorge um das Gesamtkonstrukt im deutschen Profifußball.
Sie haben sich in der Vergangenheit immer zur 50+1-Regel bekannt. Wie groß ist Ihre Sorge, dass diese womöglich doch einmal fällt?
Das kann sicher passieren, aber es wäre für den Fußball nicht förderlich. Es würde ein Wettrennen um die Investoren beginnen, die Jagd nach dem finanzstärksten Oligarchen, das wirtschaftlich potenteste asiatische Unternehmen. Dann geht es nicht mehr darum, wer das beste sportliche Konzept, die erfolgreichste Nachwuchsförderung oder die größte Unterstützung von Partnern und Fans hat. Das wäre der schleichende Tod des Fußballs, wie wir ihn kennen.