Hamburg. Beim FC St. Pauli herrscht nach dem schwachen Auftritt beim 0:2 gegen Braunschweig Ernüchterung. Lienen hofft auf Weckruf-Effekt.

Am Tag nach dem desaströsen Auftritt zur Heimspielpremiere der neuen Zweitligasaison gab es im Team des FC St. Pauli reichlich Redebedarf. Weit mehr als eine Stunde diskutierten Trainer und Spieler über die Ursachen und Folgen der 0:2-Heimniederlage gegen Eintracht Braunschweig am Sonnabend. „Wir haben heute alle Sachen knallhart angesprochen, die anzusprechen waren. Aber jetzt schauen wir nach vorn, auf das Pokalspiel beim VfB Lübeck am Freitagabend. Das Spiel gegen Braunschweig lässt sich viel leichter abhaken als manches andere, das man knapp und unglücklich verliert. Dies war einfach eine verdiente Niederlage“, sagte Sören Gonther, der für den kurzfristig stark erkälteten Philipp Zier­eis ins Team gerückt war.

Das Vorhaben, das Spiel gegen Braunschweig aus den Gedanken zu verbannen, liegt in Gonthers Fall besonders nah. Schließlich hatte er das zweite Braunschweiger Tor ermöglicht, als er als letzter Feldspieler auf den Ball trat, statt ihn zu stoppen, und darüber stolperte. Braunschweigs Julius Biada zog mit Ball davon und erzielte das spielentscheidende zweite Braunschweiger Tor. „Das ist mir vorher noch nie passiert. Es hat mir schon weh getan, als ich mir es noch einmal angeschaut habe. Das 0:2 war der Genickschlag. Es tut mir leid für die Mannschaft“, sagte Gonther.

So richtig es sein mag, nicht lange über eine indiskutable Vorstellung zu hadern, sondern sich auf die nächste sportliche Aufgabe zu fokussieren, so notwendig ist es aber auch, Ursachenforschung zu betreiben. Dabei hilft ein Blick zurück auf die Stimmungslage am vergangenen Montag zur Halbzeit des Saisonauftaktspiels beim VfB Stuttgart. Bekanntlich führte dieselbe St.-Pauli-Mannschaft, die ihren Fans jetzt ein Fehlpass-Festival bot, zu jenem Zeitpunkt mit 1:0 beim so hoch eingeschätzten Bundesliga-Absteiger und hatte es nur versäumt, mit weiteren Treffern das Spiel vorzeitig zu entscheiden.

„Vielleicht hat sich der eine oder andere blenden lassen von der ersten Halbzeit in Stuttgart“, analysierte jetzt St. Paulis Trainer Ewald Lienen. Inzwischen weiß man, dass die Stuttgarter, die gegen St. Pauli noch glücklich 2:1 gewonnen hatten, aktuell keineswegsein Topteam der Zweiten Liga ist. Dies bewies der Auftritt des VfB beim 0:1 am Freitagabend in Düsseldorf. „Die Stuttgarter müssen sich auch noch finden. Vielleicht haben wir auch nur deshalb dort so gut ausgesehen. Braunschweig war jetzt jedenfalls eine ganze Ecke stärker als Stuttgart“, sagte Lienen.

So war es möglich, dass aus der Halbzeit-Euphorie in Stuttgart 135 Spielminuten und insgesamt vier Gegentore später Niedergeschlagenheit, ja sogar Entsetzen über die gezeigte Leistung wurde. Der Blick auf die Zweitligatabelle nach zwei Spieltagen tut ein Übriges. Dort steht St. Pauli punktlos an letzter Stelle. Böse Erinnerungen werden plötzlich wach an die vorvergangene Saison, als bis zum Ende der Abstieg in die Dritte Liga drohte.

„Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Jedes Match in der Zweiten Liga ist ein Überlebensspiel“, hatte Ewald Lienen nicht erst nach dem 0:2 gegen Braunschweig sondern schon vor zwei Wochen gesagt. Danach erntete er dafür überwiegend nur ein müdes Lächeln, schließlich schien St. Pauli nach dem vierten Platz in der vergangenen Saison und einer ansprechenden Vorbereitung auf einem guten Weg, sich erfolgreich weiterzuentwickeln. Lienen ahnte also offenbar schon, dass der Saisonstart sehr holprig werden könnte. „Ich hätte mich gern getäuscht. Es ist aber eine Erfahrung, dass es nicht automatisch so weitergeht, wenn man eine gute Saison gespielt hat“, sagte der Trainer.

Gegentore entsprangen Fehlern der St. Paulianer

Aus seiner Sicht spielen die personelle Fluktuation in der Mannschaft, die objektiv betrachtet allerdings eher gemäßigt war, und die zum Teil wochenlangen Ausfälle einiger Spieler im Laufe der Vorbereitung eine entscheidende Rolle für den aktuellen Zustand des Teams. Die Gefahr der Selbstzufriedenheit ist mit dem fußballerischen Debakel gegen Braunschweig immerhin erst einmal gebannt. „Das ist ein Weckruf für uns alle. Wir müssen realisieren, dass wir uns in dieser Saison erst einmal wieder neu aufstellen und neu erfinden müssen. Es müssen jetzt alle aufwachen und realisieren, dass wir völlig anders wahrgenommen werden“, sagte Lienen weiter.

Tatsächlich hatte am Sonnabend Braunschweigs Trainer Torsten Lieberknecht sein Team perfekt auf St. Pauli eingestellt und die richtigen taktischen Maßnahmen ergriffen, um ein Kombinationsspiel der Hamburger zu unterbinden. Selbst inszenierten die Niedersachsen auf dem in dieser Saison neuen Rasen im Millerntor-Stadion immer wieder durch genaues Zuspiel gute Angriffe. Das frische, ebene Grün schien in diesem Fall dem Gegner mehr zu helfen als der Heimmannschaft, die erschreckend oft durch einfache Ballverluste in die Situation geriet, dem Gegner hinterherlaufen zu müssen.

Die beiden Gegentore allerdings entsprangen klaren Fehlern der St. Paulianer. Vor Gonthers Sturz in der zweiten Halbzeit hatte der früh für Lasse S0biech (Muskelverletzung im Beckenbereich) eingewechselte Marc Hornschuh einen weiten Flankenball von Joseph Baffo falsch berechnet. So kam im Kopfballduell der 16 Zentimeter kleinere Domi Kumbela an den Ball und beförderte ihn über Torwart Robin Himmelmann hinweg zum 0:1 (40.). „Das Tor nehme ich ganz klar auf meine Kappe. das habe ich der Mannschaft auch so gesagt“, berichtete Hornschuh am Sonntagmittag nach dem langen internen Gespräch und dem regenerativen Radfahren und Krafttraining.

Neben Trainer Lienen schauten sich am Nachmittag auch einige Profis wie Sören Gonther das Regionalligaspiel zwischen St. Paulis U-23-Teams und dem kommenden Pokalgegner VfB Lübeck (0:1) an. Am diesen, trainingsfreien Montag haben alle Spieler Gelegenheit, das Braunschweig-Spiel zu verarbeiten.