Hamburg. Nach dem 1:1 gegen Frankfurt versucht der FC St. Pauli, Sebastian Maier wieder aufzubauen. Trainer Lienen macht ihn nicht verantwortlich.

Am Tag danach fiel es Sebastian Maier noch immer schwer, wieder ein wenig zu lächeln. Auch wenn seine Mitspieler, die am Sonntagmorgen mit ihm durch das Niendorfer Gehege eine Runde Fahrrad fuhren, es mit Aufmunterung versuchten. Die hatte bereits am Sonnabend direkt nach dem 1:1 gegen den FSV Frankfurt begonnen. Lasse Sobiech nahm Maier in den Arm und sprach ihm gut zu. „Wir werden Basti sicher keinen Strick daraus drehen“, sagte Jan-Philipp Kalla. Mit geröteten Augen hatte Maier zuvor den Platz verlassen.

Vorausgegangen war ein kapitaler Fehler, der in der 58. Minute zum Ausgleich führte. Eine viel zu lange Flanke von Frankfurts Rechtsverteidiger Alexander Huber hatte Maier zwölf Meter vor dem Tor zum Entsetzen aller Hamburger nicht aus, sondern zurück in die Gefahrenzone geköpft – direkt vor die Füße von Mario Engels. Dieser legte ab auf Joni Kauko, der aus sechs Metern Robin Himmelmann überwand. Maier beobachtete die Szene wie in Trance, fasste sich dann an den Kopf und hätte sich wohl am liebsten sofort in den ramponierten Rasen des Millerntorstadions eingebuddelt. Trainer Ewald Lienen ließ den Unglücksraben aber noch bis zur 86. Minute auf dem Feld. „Ich musste Basti nicht erlösen, er hat ein super Spiel gemacht“, entgegnete Lienen der Frage, ob er Maier zu spät ausgewechselt habe. „Wir werden ihn auch nicht verantwortlich machen. Wir sind eine Mannschaft, wir werden ihn wiederaufbauen“, sagte Lienen.

Auch wenn Trainer und Fans den Punkt gegen die beste Rückrundenmannschaft nicht als Misserfolg werten wollten, machten Maiers Tränen deutlich, dass sich das 1:1 für St. Pauli wie eine Niederlage anfühlte. Überhaupt schlugen die Gefühle der Hamburger an diesem Nachmittag in alle Richtungen aus. Vor der Karussellkulisse des am Freitag beginnenden Frühlingsdoms erlebte der Kiezclub eine Achterbahnfahrt der Emotionen.

St. Pauli verpasst Heimsieg gegen Frankfurt

Lennart Thy (M.) erlöste St. Pauli mit dem 1:0 gegen Frankfurt
Lennart Thy (M.) erlöste St. Pauli mit dem 1:0 gegen Frankfurt © dpa | Axel Heimken
Es war zugleich das erste Heimtor des Jahres
Es war zugleich das erste Heimtor des Jahres © Witters
Zuvor drehte sich Thy im Stile von Gerd Müller um seinen Gegenspieler Huber
Zuvor drehte sich Thy im Stile von Gerd Müller um seinen Gegenspieler Huber © Witters
Doch die Führung dauerte nicht lange an, weil Joni Kauko nach Fehler von Sebastian Maier kurz darauf den Ausgleich für Frankfurt erzielte. Das 1:1 war zugleich der Endstand
Doch die Führung dauerte nicht lange an, weil Joni Kauko nach Fehler von Sebastian Maier kurz darauf den Ausgleich für Frankfurt erzielte. Das 1:1 war zugleich der Endstand © dpa | Axel Heimken
St. Pauli begann stark: In dieser Szene setzt Marc Rzatkowski Frankfurts Alexander Bitroff unter Druck
St. Pauli begann stark: In dieser Szene setzt Marc Rzatkowski Frankfurts Alexander Bitroff unter Druck © dpa | Axel Heimken
Marc Rzatkowski war Dreh- und Angelpunkt im Spiel der Kiezkicker
Marc Rzatkowski war Dreh- und Angelpunkt im Spiel der Kiezkicker © dpa | Axel Heimken
Lasse Sobiech vergab nach 15 Minuten die Riesenchance zur Führung
Lasse Sobiech vergab nach 15 Minuten die Riesenchance zur Führung © WITTERS | TayDucLam
Christopher Nöthe machte ein schwaches Spiel als einziger Stürmer und verlor viele Zweikämofe
Christopher Nöthe machte ein schwaches Spiel als einziger Stürmer und verlor viele Zweikämofe © WITTERS | TayDucLam
Lennart Thy behauptet den Ball vor Frankfurts Joni Kauko
Lennart Thy behauptet den Ball vor Frankfurts Joni Kauko © dpa | Axel Heimken
Während Frankfurts Torhüter Patric Klandt immer wieder Unsicherheiten offenbarte, machte Marc Rzatkowski ein starkes Spiel
Während Frankfurts Torhüter Patric Klandt immer wieder Unsicherheiten offenbarte, machte Marc Rzatkowski ein starkes Spiel © dpa | Axel Heimken
St. Paulis Abwehrchef Sören Gonther klärt resolut gegen FSV-Stürmer Zlatko Dedic, der sonst durch gewesen wäre
St. Paulis Abwehrchef Sören Gonther klärt resolut gegen FSV-Stürmer Zlatko Dedic, der sonst durch gewesen wäre © dpa | Axel Heimken
Frankfurts Trainer Benno Möhlmann klatscht mit Ewald Lienen vor dem Spiel ab. Beide Trainer-Urgesteine kennen sich gut
Frankfurts Trainer Benno Möhlmann klatscht mit Ewald Lienen vor dem Spiel ab. Beide Trainer-Urgesteine kennen sich gut © dpa | Axel Heimken
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Da war zunächst Ewald Lienen, der vor dem Spiel eine Stadionrunde drehte und St. Paulis Fans mit energischen Gesten in Stimmung versetzte. „Die Emotionalität spielt bei uns eine große Rolle“, sagte Lienen. Offenbar hatte der 61 Jahre alte Coach im Gefühl, dass die Emotionen die entscheidenden Situationen des Spielverlaufs beeinflussen sollten. Zunächst ließ sich St. Pauli von einer beeindruckenden Fanchoreographie sowie der aufgeputschten Stimmung auf den Rängen beflügeln. Nach einem beherzten Ballgewinn von Kapitän Sören Gonther und einer energischen Vorarbeit von Lennart Thy brachte Christopher Nöthe nach nur 26 Sekunden den Ball von der Strafraumkante aus mit dem Rücken zum Tor auf dasselbige. Da gab es sogar Szenenapplaus der 22.884 Zuschauer im ausverkauften Millerntor. Bis zum nächsten Gefühlsausbruch sollte es 15 Minuten dauern. Nach einer Ecke von Dennis Daube kam Innenverteidiger Sobiech aus sieben Metern völlig frei zum Kopfball, nickte sich aber selbst an den Körper und stoppte den aufkommenden Jubelschrei der Fans schlagartig. Im direkten Gegenzug war es Vincenzo Grifo, der plötzlich frei vor Himmelmann auftauchte. St. Paulis Keeper wartete lange und verhinderte mit einer Fußabwehr den Rückstand (16.).

Es folgte eine Phase der Nervosität auf beiden Seiten. Viele Ballverluste machten vor allem St. Paulis Offensivbemühungen zu einer schweren Kost. Torchancen entstanden lediglich durch Einzelleistungen von Marcel Halstenberg (17.) oder Marc Rzatkowski (25.). Weil der FSV anders als Braunschweig in der Vorwoche deutlich tiefer stand, war St. Pauli zum Spielaufbau gezwungen. Dabei offenbarte der Tabellenvorletzte erhebliche Schwächen. „Wir haben unsere Angriffe nicht gut zu Ende gespielt“, sagte Lienen.

Das änderte sich Sekunden nach dem Wiederanpfiff. Über Julian Koch und Maier gelangte der Ball zu Kalla. Der erneut starke Rechtsverteidiger passte von der Grundlinie zurück zu Thy, der im Stile von Gerd Müller aus der Drehung das 1:0 erzielte. Das erste Heimtor des Jahres wirkte wie eine Erlösung. Plötzlich stürmten die Hamburger befreit nach vorne. Zu naiv, wie Lienen befand. „Wir haben uns in die Euphorie reingesteigert. Das war unnötig.“ Lieber wäre es Lienen gewesen, sein Team hätte sich nach italienischem Muster hinten reingestellt.

Was folgte, war der beschriebene Ausgleich – und die Rückkehr der Angst. St. Pauli traute sich nicht mehr, mit Risiko nach vorne zu spielen. Auch Lienen machte mit seinen Wechseln nicht deutlich, dass er das Spiel mit aller Macht noch gewinnen wollte. Und doch gab es noch diesen einen Moment, in dem das gesamte Stadion in Gebanntheit erstarrte. Es lief die 86. Minute, als der Ball zu Gonther flog. Drei Meter vor dem Tor hatte der Kapitän eine gefühlte Ewigkeit Zeit, den Kopfball im Tor unterzubringen, doch Frankfurts Patric Klandt parierte. „Ich hätte den Ball noch stoppen können. Da habe ich keine gute Entscheidung getroffen“, sagte der untröstliche Gon­ther, der dem untröstlichen Maier Mut machte. „Ich wünsche Basti, dass er uns in Berlin zum Sieg schießt.“ Es wäre St. Pauli zu wünschen, dass Gonther dieses Szenario nicht nur im Gefühl hat.