Ewald Lienen soll das Team vom Millerntor vor dem Abstieg bewahren und in eine erfolgreiche Zukunft führen. Dass er dabei nach 40 Jahren im Fußball noch einmal Neuland betreten würde, hätte er wohl selbst nicht gedacht.

Hamburg. Mehr als 40 Jahre ist der Mann jetzt schon im Profifußball zu Hause. Als Ewald Lienen als 20-Jähriger im Sommer 1974 vom VfB Schloß Holte zum benachbarten Zweitligisten Arminia Bielefeld wechselte, war eben diese Spielklasse noch in eine Nord- und Südstaffel aufgeteilt, gab es nur zwei Punkte für einen Sieg und in den Stadien existierten noch keine VIP-Logen.

Eigentlich müsste so ein Mann, der schon so lange dabei ist, doch alles schon einmal erlebt haben, was der Mikrokosmos Profifußball so zu bieten hat. Eigentlich.

Doch weit gefehlt. Noch nie zuvor ist es ihm passiert, dass er am Tag vor einem Punktspiel als neuer Trainer verpflichtet worden ist. Diese Erfahrung machte er erst, als ihn der FC St. Pauli vor nunmehr gut zwei Wochen verpflichtete. Es war die Nacht vom 15. auf den 16. Dezember, als sich das auch erst einen Monat lang amtierende Präsidium des Kiezclubs entschloss, nach nur 13 Spielen Thomas Meggle vom Cheftrainer zum Sportdirektor umzufunktionieren und Lienen als neuen Cheftrainer anzustellen.

Mittags wurde Lienen der Öffentlichkeit vorgestellt, Hals über Kopf verließ er die Pressekonferenz, um sein erstes Training zu leiten, das zugleich das Abschlusstraining vor dem Spiel beim Tabellenführer FC Ingolstadt war, und kurz danach flog er mit dem Team gen Süden. „Das war schon hardcore“, sagte Lienen danach.

Ehrenrunden bereits beim Heimdebüt

Das Spiel in Ingolstadt ging bekanntlich knapp (1:2) verloren, es waren aber dort schon positive Ansätze zu erkennen, was den St.-Pauli-Fans nicht verborgen blieb. So erklärte sich auch der schon euphorische Empfang für Lienen bei seinem ersten Heimspiel vor nunmehr zehn Tagen. Die Massen jubelten ihm zu, als er etliche Minuten vor dem Anpfiff der Partie gegen den VfR Aalen im Stadieninnenraum vor der Südtribüne und Gegengeraden entlangging, immer wieder ins Publikum winkte und in die Hände klatschte.

Auch das: hardcore.

„Ich muss diese Fans nicht heißmachen“, stellte er klar. „Das ist meine Art, die Zuschauer zu begrüßen, mich bei ihnen zu bedanken, dass sie gekommen sind, und ihnen Respekt zu zollen.“ Und doch hatte Lienen schon etwas bewirkt. „Beim Warmmachen herrschte schon eine ganz besondere Stimmung im Stadion. So etwas habe ich vorher noch nie erlebt“, sagte später, nach dem verdienten 3:1-Sieg gegen Aalen, Innenverteidiger Lasse Sobiech.

Es war nach mehr als zwei Monaten der erste Punktspielsieg des FC St. Pauli und überhaupt erst der vierte in dieser Saison. Viele bedauerten es danach, dass ausgerechnet jetzt Winterpause ist. Erst am 7. Februar geht es für die Kiezkicker im Auswärtsspiel beim SV Sandhausen wieder um Punkte, der nächste, jetzt schon herbeigesehnte Auftritt im Millerntor-Stadion von Lienen und seinen Mannen wird noch bis zum 16. Februar (20.15 Uhr) auf sich warten lassen.

Was ist es, das diesen Ewald Lienen bei den an sich so kritischen und einem Personenkult reserviert gegenüberstehenden St.-Pauli-Anhängern auf Anhieb zum großen Hoffnungsträger, ja schon Heilsbringer werden lässt? Nun gut, da ist seine Vergangenheit als unangepasster und dennoch erfolgreicher Bundesligaspieler. Die langen, bei seinen Sprints auf Linksaußen wehenden Haare, waren lange sein Markenzeichen. Aus seiner politischen Einstellung, die in etwa seiner Position auf den Spielfeld entsprach, machte er nie einen Hehl. 1985, als er bei Borussia Mönchengladbach spielte, kandidierte er sogar bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für die damalige Friedensliste. Da hatte er längst den Ruf als „Rebell“ inne.

Klar, ein solches Image passt bestens zu St. Pauli. Und umgekehrt ist es auch glaubwürdig, wenn Ewald Lienen heute sagt, dass er den FC St. Pauli schon immer für einen besonderen, anders gearteten Club innerhalb der deutschen Profifußballszene gehalten hat. Und doch wäre es viel zu banal, die spontane Sympathie der Fans für Lienen allein an möglicherweise gemeinsamen, politischen Grundeinstellungen festzumachen.

Lienens Gattin Rosa bringt ihre Kompetenzen mit ein

Daher ist es wohl auch noch mehr die positive Besessenheit, mit der Lienen den Fußball auch nach so vielen Jahren immer noch verfolgt. Seine Frau, so sagte er kürzlich ein wenig augenzwinkernd, müsse sich schon zu ihm auf das Fernsehsofa setzen, wenn sie mit ihm sprechen wolle. Schließlich gebe es ja an jedem Tag irgendwo Fußball im Fernsehen zu sehen. Dabei ist seine Gattin Rosa dem Fußball keineswegs abgeneigt. Im Gegenteil: Vor knapp vier Jahren, als Lienen in Bielefeld Trainer war und mitten im Abstiegskampf der Zweiten Liga steckte, brachte seine Frau sogar ihre Kompetenz mit ein. Die Diplom-Sozialpädagogin und Mentaltrainerin erstellte unentgeltlich mithilfe eines Fragebogens Motivationsprofile für Spieler und Mitarbeiter. Am Ende aber half auch dies nichts, Arminia gewann unter Lienen nur drei von 23 Spielen und stieg als Tabellen-18. ab.

Vergangenheit.

Beim FC St. Pauli, glauben viele jetzt, ist Lienen genau der richtige Mann, um eine Mannschaft, die vor einem Jahr noch ganz oben in der Tabelle mitgemischt hat, aber inzwischen in Roland Vrabec, 40, und Thomas Meggle, 39, zwei jüngere, modern ausgebildete Trainer verschlissen hat, wieder in die richtige Spur zu bringen.

Wurde Lienen in seinen ersten Trainerjahren noch ebenso gern wie platt als „Zettel-Ewald“ belächelt, so zeichnet ihn auch heute, da er längst im digitalen Zeitalter angekommen ist, immer noch seine gelebte Akribie aus. Letztlich bescherte diese ihm auch den neuen Job beim FC St. Pauli. Zunächst hatte das neue Präsidium unter Oke Göttlich Lienen und andere Trainer lediglich als externe Berater zu Gesprächen geladen, um die zahlreichen sportlichen Probleme der Mannschaft herauszufinden. Lienen beeindruckte dabei mit punktgenauen Analysen anhand von ausgewählten Spielszenen des FC St. Pauli in der aktuellen Saison. Es gab sogar einen Workshop mit mehreren Trainern. Und auch das dürfte für Ewald Lienen in den gut 40 Jahren seiner Profifußballkarriere ein Novum gewesen sein.