Hamburg. Stadionsprecher gratulierte dem HSV zu früh. Nun spricht er über das Chaos, seine Verbindung zu Boldt und anschließende Anfeindungen.

Als Jonas Boldt in den Fernseher einer Loge des Sandhäuser Hardtwaldstadions blickte, wusste er sofort, dass er Wolfgang Hell finden muss. Der Stadionsprecher des SV Sandhausen hatte soeben dem HSV zur Rückkehr in die Bundesliga gratuliert.

Auf den Rängen brachen daraufhin alle Dämme. 10.000 HSV-Fans stürmten endgültig den Platz, zerschnitten das Tornetz, sicherten sich ein Stück des vermeintlichen Aufstiegsrasens und lagen sich mit den ebenfalls jubelnden Spielern in den Armen. Doch Boldt sah live bei Sky, dass die Partie von Rivale 1. FC Heidenheim, der nicht gewinnen durfte, noch lief.

HSV-Drama von Sandhausen: Jetzt spricht Stadionsprecher

Als der von der anderen Seite des Stadions herübergeeilte Hell in der Loge eintraf, rutschte ihm „das Herz in die Hose“, wie er ein Jahr später dem Abendblatt erzählt. „Ich habe in dem Moment erst realisiert, was gerade passiert.“

Wegen der 15-minütigen Nachspielzeit waren bei Heidenheims Spiel in Regensburg noch mehr als zehn Minuten zu spielen. Heidenheims Elfmeter zum 2:2 sahen Boldt und Hell gemeinsam in der Loge. Es folgte schließlich das 3:2 durch Tim Kleindienst, durch dessen Treffer alle Aufstiegsträume des HSV zerplatzten. „In diesem Moment wurde mir richtig schlecht und elend“, erinnert sich Stadionsprecher Hell.

Wie es zum Chaos von Sandhausen kam

Der Tag, an dem der HSV mit einem Bein in der Bundesliga stand, jährt sich an diesem Dienstag zum ersten Mal. Das Abendblatt hat mit den Protagonisten von damals gesprochen, um die teilweise chaotischen Ereignisse zu rekapitulieren.

Die sich in Windeseile verbreitete Fehlinformation des Hamburger Aufstiegs war nur deshalb möglich, weil die mobilen Daten sowie das Zuschauer-Wlan im gesamten Stadion ausgefallen waren. Selbst als das 3:2 für Heidenheim fiel, jubelten einige HSV-Fans. Weil sie dachten, der Treffer sei für Regensburg gefallen. Kapitän Sebastian Schonlau brachte es später mit glasigen Augen auf den Punkt: „Fußball kann manchmal grausam sein.“

Auch Hell war von dem Sandhäuser Funkloch betroffen. „Ich hatte selbst kein Internet“, erinnert sich der Stadionsprecher. Das Problem war, dass er zwei Mitarbeitern vertraute, die ihm sagten, dass Heidenheims Partie abgepfiffen sei und der HSV aufsteige. „Im Nachhinein war es ein Fehler, den beiden, die wahrscheinlich auch kein Internet hatten, zu glauben.“

Boldts Verbindung zu Sandhausens Stadionsprecher

Schließlich griff Boldt auf eigene Initiative zum Stadionmikrofon und informierte die größtenteils ahnungslosen Fans. Was bislang niemand wusste: Der Ex-Sportvorstand und Hell kennen sich schon länger. Denn Hell war auch als Stadionsprecher beim FC Victoria Bammental tätig, für den Boldt das Tor hütete. Außerdem war der heutige Manager der erste Fußballtrainer von Hells ältestem Sohn Paul (21) bei den Minis.

Vor einem Jahr hatte sich Hell bereits vor dem HSV-Spiel mit Boldt geeinigt, dass dieser sein Mikrofon übernehmen werde, „falls etwas Wildes passiert“. Zu diesem Zeitpunkt hätte Hell allerdings „nie damit gerechnet, welches Drama noch bevorsteht“.

Sandhausens Stadionsprecher Wolfgang Hell an der Seite von Ex-HSV-Profi Dennis Diekmeier beim Fanfest nach dem letzten Spieltag.
Sandhausens Stadionsprecher Wolfgang Hell an der Seite von Ex-HSV-Profi Dennis Diekmeier beim Fanfest nach dem letzten Spieltag. © Imago / foto2press

Stadionsprecher von HSV-Fans angefeindet

Ein Drama, das sich auch die Tage danach fortsetzte. Denn der Stadionsprecher erhielt viele Anfeindungen, gerade über das Internet, das inzwischen wieder funktionierte. „Einige HSV-Fans gingen auf mich zu und sagten: ,Kopf hoch! Wir sind ja nicht deinetwegen nicht aufgestiegen.‘ Andere aber suchten in mir den Sündenbock“, beschreibt Hell die schwierige Zeit danach.

„In den sozialen Netzwerken habe ich erschreckende Nachrichten erhalten, bei denen Grenzen überschritten wurden. Meine Adresse wurde veröffentlicht, mit dem Aufruf zur Gewalt.“

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Er benötigte vier Tage, um die Vorkommnisse zu verarbeiten. „Da wird es einem schon anders, es ging mir nicht gut in dieser Zeit“, sagt Hell, der von seiner Familie unterstützt wurde. „Als ich diesen ganzen Mist in den sozialen Medien nicht mehr lesen konnte, bat ich meine Kinder, alle Nachrichten zu löschen.“

HSV: Boldt über Sandhausen-Moment

Mit ein paar Tagen Abstand schrieb er Boldt eine Nachricht. „Ich bedankte mich für seine Initiative, über das Stadionmi­krofon zu den Fans zu sprechen, und entschuldigte mich für die verfrühte Gratulation“, erzählt Hell. „Jonas hat mir nett geantwortet und mich aufgemuntert.“

Der Stadionsprecher hat seine Lehren aus dem chaotischen Ablauf gezogen. „Ich würde nie wieder so eine Durchsage machen, bevor ich die Information nicht persönlich verifiziert habe“, sagt Hell, dem mittlerweile leistungsfähigere Funkgeräte zur Verfügung stehen, um sich über die anderen Spielstände zu informieren.

Bleibt die Frage, wie Boldt ein Jahr später auf den Fast-Aufstieg zurückblickt. „Es war der emotionalste und wahrscheinlich dramatischste Moment meiner HSV-Zeit“, sagt der Manager, dem in fünf Jahren immer etwas fehlte, um den HSV in die Bundesliga zu führen. In Sandhausen waren es fünf Minuten.