HSV-Ikone Magath: Nationalelf ist derzeit nicht konkurrenzfähig, Spieler folgen Nagelsmann nicht mehr vorbehaltlos.

Vor einigen Wochen war ich noch fest davon überzeugt, dass unsere Fußball-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft im nächsten Jahr eine ordentliche Rolle spielen wird. Das sportliche Potenzial dafür schien mir vorhanden, auch glaubte ich, dass die richtigen Lehren aus der Ära Hansi Flick gezogen werden.

Nach den jüngsten Auftritten in Berlin gegen die Türkei und in Wien gegen Österreich kommen mir jetzt erste Bedenken. Julian Nagelsmann setzt das fort, woran Flick zuletzt scheiterte: Er experimentiert, auch wenn er das anders benennt. Die deutsche Mannschaft braucht jetzt aber keine Experimente, sie braucht dringend Sicherheit, Kompaktheit, Stabilität, sie muss sich Selbstvertrauen erspielen, das in diesem Jahr verloren gegangen ist. Im Augenblick, dass muss ich so klar sagen, sind wir nicht konkurrenzfähig.

Magath: Mannschaft hat Zweifel an den Experimenten des Bundestrainers

Natürlich darf ein Trainer Taktiken und Personal testen, dafür wären jedoch eine Grundstruktur, ein erprobtes System, gewisse Verlässlichkeiten und Automatismen unabdingbare Voraussetzungen. Über diese für den Erfolg unerlässlichen Grundtugenden verfügt unsere Nationalelf derzeit nicht, sie sind ihr abhanden gekommen. In dieser Situation verschärfen ständige Wechsel die Unsicherheiten nur.

Mich beschleicht inzwischen das Gefühl, dass die Mannschaft die zahlreichen Experimente nicht mehr mitträgt, sie den Sinn dieser Maßnahmen nur schwer nachvollziehen kann, ihr die Überzeugung fehlt, damit aus der sportlichen Misere kommen zu können. Ich spreche den Spielern nicht den Willen ab, der ist vorhanden, wenn ein Team jedoch an den Maßnahmen des Trainers zu zweifeln beginnt, schwindet im Unbewussten die Begeisterung, diese Vorgaben auch umzusetzen. Das kostet auf dem Platz die paar Prozent größere Entschlossenheit, die oft den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen. Diese Erfahrung habe ich jedenfalls gemacht.

Magath: Nagelsmann will offenbar unbedingt eigene Akzente setzen

Nagelsmann scheint allerdings auf seinem Kurs zu beharren, er will seine Vorstellungen offenbar durch- und eigene Akzente setzen. Das halte ich nicht für zielführend. Anders ist es für mich nicht zu erklären, dass er einen torgefährlichen Offensivspieler internationalen Formats wie Kai Havertz in Wien zum zweiten Mal als Linksverteidiger aufstellte. Weder in Leverkusen, noch beim FC Chelsea oder jetzt beim FC Arsenal ist einer seiner Trainer auf die Idee gekommen, Havertz in dieser Rolle auszuprobieren. Dafür wird es gute Gründe gegeben haben.

Offensivspieler können auch in der Defensive Zweikämpfe gewinnen, Havertz hat das gegen die Türkei und gegen Österreich bewiesen, seine Leistungen waren vollkommen in Ordnung. Aber darum geht es nicht: Mindestens ebenso wichtig sind für Verteidiger das Spiel ohne Ball, die Laufwege, das Antizipieren gegnerischer Angriffe, damit gefährliche Aktionen gar nicht erst entstehen können. Das 1:1 der Türken in Berlin ist dafür ein Beispiel. Leroy Sané arbeitete zwar vorbildlich nach hinten, fand jedoch wie seine Nebenleute nicht die richtige Position im Raum, um die Vorbereitung des Ausgleichstreffers zu verhindern.

Magath: Wir brauchen Verteidiger, die vor allem eins können – verteidigen

Spieler auf für sie ungewohnten Positionen einzusetzen, ist manchmal unumgänglich. Es sollten indes nicht zu viele sein. In Wien spielte links hinten mit Havertz ein offensiver Mittelfeldspieler, rechts hinten mit Jonathan Tah ein gelernter Innenverteidiger. Tahs tapsiges Zweikampfverhalten ermöglichte Marcel Sabitzer mit einem Beinschuss den österreichischen Führungstreffer. Ich bleibe dabei: Wir brauchen in der Nationalelf Verteidiger, die vor allem eins können – verteidigen. Nagelsmann sagt, wir hätten sie nicht. In der Bundesliga gibt es sie aber.

Nach den Spielen in Berlin und in Wien beklagte der Bundestrainer zudem emotionale Defizite, die Gegner hätten größere Leidenschaft gezeigt. Das mag sein. Seine Aufstellungen haben dazu beigetragen. Wer vornehmlich Typen nominiert, die eher spielerische als kämpferischen Lösungen bevorzugen, darf nicht überrascht sein, dass der Gegner mehr Emotionen zeigt. Mehr Mischung wäre wohl hilfreich.

Viel Zeit bleibt Nagelsmann jetzt nicht mehr, bis zur EM die richtigen Schlüsse zu ziehen.