Hamburg. Mit einer neuerlichen Reform will der DFB zurück in die Weltspitze. Der HSV und St. Pauli praktizieren die Ideen schon seit Jahren.

Am Tag nach dem überzeugenden 2:1-Sieg gegen Vizeweltmeister Frankreich veröffentlichten Hannes Wolf und Sandro Wagner ein Video. An der Seite von Kurzzeitbundestrainer Rudi Völler hatten die beiden am Dienstagabend noch auf der Bank der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gesessen. Einen Tag später widmeten sich die zwei DFB-Nachwuchstrainer wieder ihrem Kerngeschäft: der Ausbildung der zukünftigen Nationalspieler. In dem Video erklären Wolf und Wagner, warum die neuen Trainingsideen des Deutschen Fußball-Bundes mit kleinen Spielformen vor allem im Kinderfußball so wichtig seien.

„Funiño ist für mich die größte Entdeckung der vergangenen Wochen“, sagt Wagner, Co-Trainer der deutschen U 20, der in der vergangenen Saison die SpVgg Unterhaching zum Aufstieg in die Dritte Liga geführt hatte, über die Spielform drei gegen drei auf zwei kleine Tore ohne Torwart. Funiño soll ab 2024 in allen Bundesländern die bisherigen Ligen- und Tabellensysteme im Kinderfußball ablösen.

Debatte: Schafft der DFB den Wettbewerb ab?

Doch spätestens seit den Aussagen von DFB-Vizepräsident Hans-Joachim Watzke („Demnächst spielen wir dann noch ohne Ball. Oder wir machen den eckig, damit er den etwas langsameren Jugendlichen nicht mehr wegläuft“) diskutiert ganz Fußball-Deutschland über die Frage: Schafft der DFB den Wettbewerb ab?

Doch selbst Wagner, ehemaliger Mittelstürmer des FC Bayern München, ist überzeugt von den neuen Ideen. „Es sind ganz viele Ahnungslose dabei, die das bewerten“, sagt der 35-Jährige. Zu Watzkes größtem Kritikpunkt, dem vermeintlichen Wegfall des Leistungsgedanken („Wenn du als Sechs-, Acht- oder Neunjähriger nie das Gefühl hast, was es ist, zu verlieren, dann wirst du auch nie die große Kraft finden, um auch mal zu gewinnen“), kontert Wagner in dem Video: „Es geht immer ums Gewinnen und Verlieren.“

HSV und St. Pauli als Vorreiter für DFB

Tatsächlich dürfte auch Watzke mittlerweile gelernt haben, dass es im Jugendfußball auch in der vom DFB-Bundestag vor einem Jahr beschlossenen Reform weiterhin um Gewinnen und Verlieren geht. Ein Blick auf die Nachwuchsarbeit der Hamburger Proficlubs HSV und FC St. Pauli macht deutlich, dass die Clubs ohnehin bereits weiter sind als der DFB.

So wurden beim HSV bereits vor acht Jahren unter dem damaligen Sportdirektor und Nachwuchschef Bernhard Peters die Strukturen im Kinderfußball verändert. Seitdem hat der HSV keine Nachwuchsmannschaften mehr unterhalb der U 11. Stattdessen gibt es rund um Hamburg vier Stützpunktorte – Norderstedt, Leezen, Nettelnburg/Allermöhe, Buchholz –, an denen die Talente alle zwei bis vier Wochen zum Kinderperspektivtraining eingeladen werden. Zum einen verringern sich Fahrzeiten für die Kinder. Zum anderen werden sie nicht so früh aus ihrem sozialen Umfeld entwurzelt.

Beim HSV steigt erst die U 12 in den Ligenbetrieb ein

Erst die U 12 steigt beim HSV in den Ligenbetrieb ein. Die U 11 spielt seit einem Jahr in regelmäßigen Spielrunden. Schwerpunkt dabei wie von Ex-HSV-Trainer Wolf gewünscht: Spielformen in kleinen Gruppen mit möglichst vielen Aktionen für jedes Kind.

Wolf (42), seit Kurzem DFB-Direktor für Nachwuchs, Training und Entwicklung, erklärt mit Daten, warum Kinder und Jugendliche sich mit kleinen Spielformen besser entwickeln können. So hätten die Kinder bei einem drei gegen drei im Schnitt 200 Ballaktionen pro Trainingseinheit, beim sieben gegen sieben lediglich 50. Die Zahl von Zweikämpfen erhöhe sich von 30 auf 100, die Torschüsse von 5 auf 25. In England und Belgien, den Nationen mit der aktuell wohl größten Menge an Toptalenten, wird bereits seit Jahren so trainiert.

St. Paulis Nachwuchsschef befürwortet DFB-Pläne

Genau wie beim FC St. Pauli. „Wir sind der Überzeugung, dass wir damit mehr leistungsorientierte und vor allem bessere Fußballer ausbilden“, sagt St. Paulis Nachwuchsleiter Benjamin Liedtke (36). „Die Reform des DFB im Kinderfußball ist dabei ein unbedingt notwendiger Schritt für mehr Qualität in der Ausbildung in der Basis und den Leistungszentren.“

St. Pauli hat bereits 2013 die U 7 bis U 9 aus dem Spielbetrieb des Hamburger Fußballverbands genommen und organisiert für diese Teams regelmäßige Funiño-Spieltage in Turnierform. Die Teams der U 10 bis U 12 nehmen zusätzlich an HFV-Wettbewerben teil. Zudem hat St. Pauli ein eigenes Kinderkonzept entwickelt. Der Name: „Rebellution“. Entwickelt von Liedtke und seinem NLZ-Kollegen Bastian Seeger. Das Ziel: Spieler ganzheitlich fördern, sie zu Persönlichkeiten entwickeln, die auf und neben dem Platz Verantwortung für sich und für die Gemeinschaft übernehmen. „Dadurch werden nicht alle schwächer – sondern im Gegenteil: es profitieren alle, sowohl individuell als auch die Gemeinschaft“, sagt Liedtke.

HSV-Trainer Walter kritisiert Pläne bei U17 und U19

Während es im Kinderfußball künftig keine klassischen Tabellen mehr gibt, werden in den Leistungsklassen der U17 und der U19 die Bundesligen abgeschafft. In den neuen Spielrunden können NLZ-Clubs nicht mehr absteigen. Auch diese Reform, die den Nachwuchstrainern den Ergebnisdruck nehmen soll, erregt die Beteiligten. Tim Walter bezeichnete sie zu Wochenbeginn als „Schmarrn“. Der HSV-Trainer sagte: „Wir wollen in Deutschland Siegertypen ausbilden und gehen weg von Tabellen und Ergebnissen.“

Doch sowohl beim HSV als auch bei St. Pauli sind die Verantwortlichen von den neuen Konzepten des DFB grundsätzlich überzeugt. Besonders mutig geht der HSV den Weg mit seiner U 19 und der U 21, die jeweils mit jungen Jahrgängen spielen und damit bewusst die Gefahr eingehen, abzusteigen. Nachwuchsdirektor Horst Hrubesch will die Talente auf diesem Weg frühzeitig auf den Männerfußball vorbereiten.

Hrubesch: DFB hat zu sehr auf Spanien geguckt

Den Wegfall der Abstiege in den oberen Jahrgängen sieht er allerdings durchaus kritisch. „Wenn ein A-Jugendspieler vor dem Abstiegskampf beschützt werden muss – wie soll er zwei, drei Jahre später im Profibereich unter Druck bestehen?“, fragte Hrubesch vor einer Woche in einem Interview mit der „Süddeutschen“. Der langjährige Nachwuchstrainer des DFB hat aber ebenso die falschen Schwerpunkte in den vergangenen Jahren erkannt. „Irgendwann wurde alles zu wissenschaftlich, weil wir unbedingt so tollen Tiki-Taka können wollten wie die Spanier“, sagte Hrubesch.

Einig sind sich aber alle: Deutschland braucht wieder mehr Spielertypen wie Bayerns Dribbelkünstler Jamal Musiala. Und das Beispiel von St. Paulis Newcomer Elias Saad (23), der nicht im NLZ, sondern beim Futsal entwickelt wurde, dürfte alle Entscheider in dieser Einschätzung bestätigen. Hannes Wolf ist sich nach den neuen Reformen sicher: „Wir werden uns in ein paar Jahren fragen, wo auf einmal die vielen guten Spieler herkommen.“