Hamburg. HSV-Matchwinner muss nach dem Siegtreffer gegen Hannover eine Enttäuschung hinnehmen. Schicksal eines Ex-Talents als Warnung?
Natürlich habe es am Wochenende noch einmal „wüste Diskussionen“ gegeben, gibt ein ARD-Mitarbeiter aus der „Tor des Monats“-Redaktion offen zu. Den epischen Last-minute-Treffer von Ransford-Yeboah Königsdörffer vom Freitagabend zum 2:1 des HSV bei Hannover 96 habe sich die fünfköpfige Jury noch zigmal angeschaut, aber am Ende habe sich die Mehrheit für fünf andere Wahnsinnstore entschieden.
„Das Tor von Königsdörffer war unglaublich“, sagt der Redakteur dem Abendblatt, „aber leider darf man sich aus einer Vorauswahl von 20 bis 25 Toren nur für fünf Treffer entscheiden. Und auch Kai Havertz’ Supertor für die Nationalmannschaft in Wembley hat es ja nicht in die Top fünf geschafft.“
Sei’s drum. Für viele HSV-Fans war Königsdörffers Solo-Tor über rund 70 Meter ohnehin kein Tor des Monats – sondern schon jetzt ein Tor des Jahres. Mindestens. Einer schrieb bei Twitter: „Königsdörffers Tor öfter gesehen als meine Eltern den ganzen September“, ein anderer kurz und knapp: „Geiles Ding, Ransi!“ Und ein Dritter: „Weltklasse Tor!!! Was für ein Antritt. Königsdörffer unser mini Mbappé!“
HSV: Königsdörffer löst ohrenbetäubenden Lärm aus
Der Mini-Mbappé erwischte auch lange nach dem Abpfiff am späten Freitagabend das perfekte Timing, als er genau dann aus der Kabine zum Interview-Marathon aufbrach, nachdem die Kollegen die Feiermusik aufdrehten.
„Ich kann ja nicht so gut tanzen“, sagte Königsdörffer entschuldigend, als er schließlich im Bauch der mit 49.000 Zuschauern ausverkauften Heinz von Heiden Arena stand und immer wieder dieses eine Tor nacherzählen musste.
Die Kurzform ging so: Ecke Hannover, Königsdörffer gewinnt vor dem eigenen Strafraum das Kopfballduell gegen Hannovers Enzo Leopold. Es folgt ein Mbappé-Sprint, dann werden Sei Muroya und erneut Leopold düpiert. Schließlich ein überlegter Torschuss – und der Rest ist ein gemeinsamer, ohrenbetäubender Jubel mit knapp 10.000 Hamburgern. Oder wie es ein Fan bei Twitter noch kürzer zusammenfasste: „Was. Für. Ein. Tor.“
Königsdörffers Tor war ein Gesamtkunstwerk
Tatsächlich war dieses Tor von A bis Z ein Gesamtkunstwerk. Das Kopfballduell, der Antritt, das Zweikampfverhalten, der Schuss und schließlich der Jubel. „Von so einem Tor träumt man“, sagte auch Sturmpartner Robert Glatzel, „Weltklasse von Ransi!“ Und Kapitän Sebastian Schonlau bemühte sogar die Metaebene für den einzigartigen Treffer: „Dieses Tor zeigt auch den Geist der Mannschaft.“
- Einzelkritik: Königsdörffers Monster-Solo nach Pfostenschuss
- 96-Trainer Stefan Leitl: „Der HSV steht da, wo er hingehört“
- Königsdörffer hatte seinen großen Auftritt akribisch geplant
Drei Tage nach dem Erlebnis, das kein Hamburger, der dabei gewesen war, so schnell wieder vergessen wird, war am Montag endlich die Zeit gekommen, um durchzuatmen. Feiertag. Ruhetag. Trainingsfrei. Nüchtern betrachtet war Königsdörffers spätes Tor „nur“ drei Punkte wert. Doch auch mit etwas Abstand hoffte manch ein HSVer auch am Montag noch darauf, dass dieser Treffer möglicherweise den HSV in dieser Saison tragen kann. Das Tor zur Bundesliga, wenn man so will.
Königsdörffer: Ex-Talent dient als Mahnmal
Oder auch nicht. „Es ist der zehnte Spieltag, da sollten wir den Ball schön flach halten“, ging Abwehrchef Schonlau qua Amt in die Defensive, als ihm die Lobhudeleien rund um Königsdörffer ein wenig zu viel wurden. Dessen Tor zum Glück wäre auch nicht der erste HSV-Treffer, dem man im Überschwang der Gefühle eine zu große Bedeutung beimisst.
Beispiel Alen Halilovic: Sechs Jahre ist es mittlerweile her, dass der „Kroaten-Messi“ („Bild“) mit einem Traumtor aus 17 Metern quasi im Alleingang den HSV gegen Zwickau eine DFB-Pokalrunde weitergeschossen hatte. Das Abendblatt schrieb damals: „Ein Schuss, der hinter Panzerglas ins HSV-Museum ausgestellt gehört.“
HSV sollte durch den Fall Halilovic gewarnt sein
Was damals noch niemand wusste: Es sollte nicht nur das erste HSV-Tor des damals gerade erst 20 Jahre alt Gewordenen werden. Es blieb auch sein letztes HSV-Tor. Statt die Euphorie mitzunehmen und durchzustarten, passierte das Gegenteil. Halilovic spielte zwar nicht wie Messi, benahm sich aber in der Kabine wie ein Weltstar.
Nach einem Jahr und gerade einmal sechs Bundesliga-Kurzeinsätzen ging es weiter nach Las Palmas, Mailand, Lüttich, Heerenveen, Birmingham, Reading und Rijeka. Halilovics Gesamtbilanz: fünf Tore binnen sechs Jahren für sieben Clubs.
Königsdörffers „schönstes Tor meiner Karriere“
Königsdörfer ist ein Jahr älter, als es Halilovic damals war. Doch wenn man allen Beteiligten Glauben schenken darf, dann scheint der Deutsch-Ghanaer im Kopf eine Dekade weiter zu sein als der Kroate seinerzeit. „Ransi hat eine gewisse Energie. Sein Tor war eine Willensleistung“, lobte Trainer Tim Walter nach der Partie. Und: „Er ist ein richtig guter Junge.“
Dieser „richtig gute Junge“ hatte auch eine „richtig gute Woche“. Der gebürtige Berliner wurde erstmals vom gebürtigen Hamburger Otto Addo zur ghanaischen Nationalmannschaft eingeladen, musste beim 0:3 gegen Brasilien noch zuschauen, durfte dann beim 1:0 Ghanas gegen Nicaragua debütieren. „Es war die schönste Fußballwoche meines Lebens. Besser geht es nicht“, sagte Königsdörffer nach „dem schönsten Tor meiner Karriere“.
HSV: Königsdörffer ist doch ein guter Tänzer
In neun Pflichtspielen für den HSV hat Königsdörffer bereits fünf Tore erzielt – also in seinen ersten zwei HSV-Monaten genauso viele wie Halilovic in seinen vergangenen sechs Karrierejahren.
Und eines muss an dieser Stelle auch noch erwähnt werden. Auch wenn er selbst darauf beharrt, kein guter Tänzer zu sein, hat Königsdörffer nun schon zweimal das Gegenteil bewiesen.
Zum einen beim Debütantenritual vor der versammelten ghanaischen Nationalmannschaft in Badelatschen mit elegantem Hüftschwung. Und am Freitag nach seinen Interviews in der HSV-Kabine zu „Sweet Caroline“. Fast die gesamte HSV-Mannschaft sang mit: „Good times never seemed so good.“ Gute Zeiten schienen noch nie so gut.