Hamburg. Der HSV will William Mikelbrencis holen, der FC St. Pauli Aurélien Scheidler. Franzosen werden im deutschen Fußball immer begehrter.

Pierre Henry Dufeil ist am Montag beschäftigt. Sogar „très occupé“, sehr beschäftigt. Eine Radioshow, eine Pressekonferenz, ein wichtiges Meeting im Stadion vom EA Guingamp. Doch als der französische Journalist, der sowohl für das Radio als auch fürs Fernsehen arbeitet, gefragt wird, ob er kurz Zeit hätte, um über den HSV, den FC St. Pauli und Hamburgs neues Faible für französische Fußballer zu sprechen, lässt er alles andere liegen.

Denn Dufeil ist Hamburg-Fan – und zwar aus Leidenschaft. „Ich habe mich Hals über Kopf in den HSV verliebt, obwohl sie meinen Club gerade 5:1 zerstört hatten“, berichtet der Reporter – und verweist auf den 5:1-Sieg des HSV 2009 gegen seinen Heimatclub EA Guingamp. „Petric, Guerrero, Zé Roberto – der HSV hatte eine Traummannschaft“ erinnert sich Dufeil an das HSV-Team von damals zurück. Mit Guy Demel, der seinerzeit auch auf dem Platz stand, bildet er heute ein Kommentatorenpärchen bei Canal Plus Afrique.

Flügelflitzer Jean-Luc Dompé (27) hat vor ein paar Tagen beim HSV unterschrieben – als erster Franzose überhaupt. In Nürnberg spielte der Stürmer erstmals von Beginn an.
Flügelflitzer Jean-Luc Dompé (27) hat vor ein paar Tagen beim HSV unterschrieben – als erster Franzose überhaupt. In Nürnberg spielte der Stürmer erstmals von Beginn an. © WITTERS | Valeria Witters

13 Jahre nach den ersten Europa-League-Spielen des HSV überhaupt ist wenig bis nichts aus der damaligen Zeit geblieben – außer Dufeils Leidenschaft für Hamburg. „Ich gucke noch heute jedes Spiel vom HSV“, sagt der Journalist, der zugibt, sich gefreut zu haben, dass vor zwei Wochen mit Jean-Luc Dompé (27) endlich der erste Franzose zum HSV gewechselt ist. Und natürlich weiß auch Dufeil, dass noch vor Transferschluss am Donnerstag mit Metz-Rechtsverteidiger William Mikelbrencis direkt der zweite Landsmann folgen soll.

Doch damit nicht genug: Auch Lokalrivale FC St. Pauli steht kurz vor der Verpflichtung von Aurélien Scheidler, einem echten Sturmtank aus der „Grande Nation“. Bleibt nur die Frage, ob das plötzlich geballte Interesse an Franzosen wirklich Zufall sein kann.

HSV-Transfer Mikelbrencis: Anzahl der Franzosen in der Bundesliga hat sich mehr als verdoppelt

„Auf keinen Fall“, sagt Dufeil, dem schon länger aufgefallen ist, dass es immer mehr Landsmänner nach Deutschland zieht. Während die Anzahl von französischen Fußballern in der deutschen Zweiten Liga in den vergangenen Jahren konstant unter zehn bleibt, hat sich die Zahl in der Ersten Bundesliga in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. 2017 spielten 15 Franzosen in der Bundesliga, heute sind es 37.

„Gerade erst letztens habe ich mich mit dem Berater von Leipzigs Christopher Nkunku über dieses Thema unterhalten“, sagt Dufeil. „Und der hat gemeint, dass einer der großen Vorteile von den deutschen Ligen sei, dass in den Bundesligen die Trainer auch den Mut haben, 18- oder 19-Jährige einzusetzen. Das ist in Frankreich die Ausnahme, in Deutschland aber fast schon die Regel.“

Geht es nach den HSV-Verantwortlichen, dann könnte eine dieser Ausnahmen schon bald die neue Hamburg-Regel werden. So ist es längst kein Geheimnis mehr, dass William Mikelbrencis (18) bis zum Ende der Transferfrist am Donnerstag unterschreiben soll. Nachdem der FC Metz und der HSV seit Tagen um jeden Cent pfeilschen, hat man sich nach Abendblatt-Informationen am Montag endlich entscheidend angenähert. Statt der Ursprungsforderung von einer Million Euro konnte Sportvorstand Jonas Boldt den Preis auf 700.000 Euro (plus Bonuszahlungen) drücken. Wenn man sich über Nacht auch noch auf die letzten Details verständigt, könnte der talentierte Teenager bereits an diesem Dienstag zum Medizincheck nach Hamburg reisen.

HSV wurde durch Nebenmann auf Mikelbrencis aufmerksam

Mikelbrencis, der sich idealerweise mit Moritz Heyer um die Position des Rechtsverteidiger streiten soll, kennen Hamburgs Verantwortliche schon länger. Aufmerksam wurden die HSV-Scouts auf den Youngster über Umwege. Zwei Jahre ist es her, dass der HSV Interesse am damals 23 Jahre alten Innenverteidiger Kiki Kouyaté von ES Troyes hatte. Doch weil der HSV den Aufstieg verpasste, konnte der kostspielige Abwehrmann aus Mali nicht verpflichtet werden.

Kouyaté wechselte schließlich für 3,5 Millionen Euro nach Metz, wo er in der vergangenen Saison zusammen mit Mikelbrencis in der Viererkette spielte. Der HSV behielt Kouyaté weiter im Auge – und wurde so gleichzeitig aufmerksam auf Mikelbrencis.

Tatsächlich findet man nur selten einen gerade mal 18-Jährigen, der in einer europäischen Topnation bereits 29 Profispiele absolviert hat – davon immerhin neun in der französischen Ligue 1. „Besonders zum Ende der vergangenen Saison, die nicht einfach für Metz war, hat Mikelbrencis fast immer gespielt“, sagt HSV-Beobachter Dufeil. Und auch Hamburgs Scouts sind überzeugt, dass das Talent aus Lothringen, das allerdings kein Deutsch spricht, noch großes Entwicklungspotenzial zu bieten hat. Gleich mehrfach haben sie Mikelbrencis in der vergangenen und in dieser Saison vor Ort gescoutet.

Das ist insofern ungewöhnlich, als dass Frankreich ein schwieriger Scoutingmarkt ist. Es gibt zwar sowohl in der Spitze als auch in der Breite ein schier unerschöpfliches Quell an Toptalenten, die allerdings auch meist einen üppigen Preis haben. Zudem ist Frankreich aufgrund der Größe und der Anstoßzeiten für Scouts nur schwer zu fassen. Dänemark ist da einfacher. Als Skandinavien-Scout kann man ohne Probleme fünf Partien am Wochenende verfolgen. Aber: Die Qualität ist natürlich in Frankreich größer.

Frankreich-Experte: Deutschland bietet Talenten stabileres Umfeld

Eine Fülle dieser Qualität ist durch die Hände von Jeannot Werth gegangen. Der Franzose ist seit mehr als 40 Jahren in der Beraterbranche aktiv, managte unter anderem Didier Deschamps und brachte Johan Micoud in die Bundesliga. Der Wahl-Schweizer kennt den französischen Markt in- und auswendig und weiß, weswegen französische Spieler für deutsche Clubs so interessant sind – und deutsche Clubs für französische Spieler.

„Der große Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland, vor allem in den zweiten und dritten Ligen, ist das hervorragende Management in Deutschland. Die französischen Clubs sind längst nicht so stabil, ständig wechseln Manager, Trainer, Vorstand und insbesondere die ausländischen Investoren. Das ist ein schwierigeres Umfeld für Talente, sich in Ruhe zu entwickeln“, so Werth. Dazu würden Teams aus der „Grande Nation“ häufig damit zögern, Nachwuchsspielern im Alter von 16 und 17 Jahren einen Profivertrag anzubieten und ihnen eine langfristige Perspektive aufzuzeigen. „Und dann ist es meistens schon zu spät, weil die deutschen Scouts zugeschlagen haben“, sagt Werth.

Französische Talente besonders athletisch

Mit Rogon hat sich eine große deutsche Berateragentur sehr aggressiv auf dem französischen Markt ausgebreitet, um die vielversprechendsten Youngster frühzeitig unter Vertrag zu nehmen. Ein Klient von Rogon: William Mikelbrencis.

Grundsätzlich sei die Ausbildung in Frankreich auf einem sehr hohen Niveau, betont Werth, maßgeblich auch durch das Institut National du Football de Clairefontaine. Im Leistungszentrum werden die größten Talente des Landes zentralisiert gefördert. Besonders in puncto Schnelligkeit und Athletik sind französische Spieler europaweit nahezu unangefochten.

Im eigenen Land verbleiben sie dennoch selten. Die Clubs würden selten innerhalb Frankreichs transferieren. „Sie verkaufen ihre Spieler lieber nach Deutschland oder England, das sind die relevantesten Märkte“, berichtet Werth, der einen weiteren Vorteil deutscher Mannschaften darin sieht, dass sie großzügigere Beraterprovisionen zahlen.

St.-Pauli-Kandidat Aurélien Scheidler erzielte für Zweitligist Dijon FCO zwölf Tore in 38 Spielen.
St.-Pauli-Kandidat Aurélien Scheidler erzielte für Zweitligist Dijon FCO zwölf Tore in 38 Spielen. © imago/PanoramiC | Federico Pestellini

Auf diese darf sich aller Voraussicht auch Nicolas Dieuze freuen, der St.-Pauli-Kandidat Aurélien Scheidler betreut. Wobei die Meinungen über den 24 Jahre alten Franzosen noch weit auseinander gehen. Von „Keiner für die erste Liga, weder in Frankreich noch Deutschland“ bis „Könnte klappen“ reicht die Bandbreite dessen, was aus seinem Heimatland zu hören ist.

Richtig ist: Ein ausgewiesener Torjäger ist der 24-Jährige nicht. In 38 Partien der vergangenen Saison gelangen ihm „nur“ zwölf Treffer. „Zwei davon hat er ausgerechnet gegen Guingamp erzielt“, sagt HSV-Fan Dufeil, der sich auch sicher ist, dass Scheidler für St. Pauli eine Verstärkung wäre. Und auch in der Makroperspektive wirken die zwölf Saisontreffer besser, denn das sind immerhin ein Viertel der 48 Saisontore Dijons, das Elfter wurde.

Zudem erfüllt Scheidler, der südlich von Calais in der kleinen Küstenstadt Saint-Martin-Boulogne aufgewachsen ist, genau die Anforderungen an einen Stürmer, der St. Pauli fehlt. Der 1,92 Meter große Rechtsfuß ist kopfball- und abschlussstark, geht oft in die Tiefe, verfügt mit 90 Kilogramm über eine imposante Physis und kann damit Bälle auch unter Bedrängnis festmachen. Eine Qualität, die den Stürmern im aktuellen Kader der Hamburger weitgehend abgeht. Kurios: Auch die HSV-Scouts hatten den Sturmbrecher im erweiterten Blickfeld.

Auch HSV-Scouts hatten St.-Pauli-Kandidat Scheidler im Blickfeld

In dieser Saison ist Scheidler allerdings noch ohne Einsatz. Und: Er will weg. Dass zwischen St. Pauli und Scheidler weitgehend Einigkeit besteht und die Verhandlungen mit Dijon längst laufen, hatte FCO-Trainer Omar Daf bereits bestätigt: „Es ist keine Überraschung mehr, der Spieler hat Gespräche mit dem Verein geführt, wir haben ihm die Tür dafür nicht verschlossen.“

Momentan hakt es an der Ablösesumme. Der Tabellenzweite der Ligue 2 fordert für seinen Mittelstürmer, dessen Vertrag noch bis zum Sommer 2024 läuft, rund eine Million Euro. St. Pauli wiederum ist gut beraten, auf Zeit zu spielen, denn in Frankreich gibt es nach Abendblatt-Informationen keinen wirklichen Markt für Scheidler. „Niemand zahlt dort eine Million für ihn“, so ein Berater.

HSV-Fan Pierre Henry Dufeil wird in dieser Woche jedenfalls ganz genau aufpassen, wie viele Franzosen es bis zum Donnerstag noch in seine Lieblingsstadt verschlägt. „Viele Grüße nach Hamburg“, sagt Dufeil noch. „Au revoir et à bientôt.“