Hamburg. Vor 100 Jahren kämpften die Hamburger gegen den 1. FC Nürnberg fünf Stunden vergeblich um den Titel. Wie es zu diesem Skandal kam.
Diese Zuschauermassen! 50.000 seien es offiziell gewesen an jenem 6. August 1922 auf dem VfB-Platz in Leipzig. Heißt es. „Aber Opa war überzeugt, dass es viel, viel mehr waren“, erzählt Michael Winzer (61), „überall haben sie gestanden, die Spieler sind kaum auf den Platz gekommen.“ Fußball hat die Massen eben auch vor 100 Jahren fasziniert – und dieses Wiederholungsspiel um die deutsche Meisterschaft zwischen dem HSV und Titelverteidiger 1. FC Nürnberg wegen seiner Vorgeschichte schon allemal.
„Kein Meister“ führt der Deutsche Fußball-Bund offiziell für die Saison 1921/22 auf seiner Ehrenliste. Dabei hatte der DFB-Bundestag in Jena den HSV mit 53:35 Stimmen zum Meister erklärt. Doch HSV-Präsident Henry Barrelet verzichtete unmittelbar danach auf den Titel: „Der HSV erhebt keinen Anspruch auf die diesjährige deutsche Meisterschaft.“ Welche Hinterzimmer-Strippen gezogen und Verhandlungen an runden Tischen da getroffen wurden, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Es heißt, der HSV sei zu diesem Verzicht – nun ja – gebeten worden.
Vereinsgeschichte: HSV-Spieler erhielten kein Gehalt
Andererseits ist von hanseatischer Klasse die Rede. „Opa wusste die Hintergründe nicht, jedenfalls hat er nie davon berichtet“, sagt Winzer, „aber an die Endspiele hat er sich gerne erinnert und meinem Bruder Ulli und mir davon auf dem Sofa sitzend erzählt. Ich spüre fast noch den Tabakrauch in der Nase.“
Der Großvater war Hans Martens, und er war der Torwart jener HSV-Mannschaft, die erstmals das Endspiel um die Meisterschaft erreicht hatte. Und die damit sogleich Teil einer einmaligen, außergewöhnlichen Fußball-Geschichte wurde – je nach Standpunkt halt. „Opa hat nie groß gehadert“, sagt Winzer und erklärt: „Er hat auch als einziger HSV-Spieler am Bankett teilgenommen.“ Geld gab es für die Spieler damals natürlich nicht – „für einen Sack Kartoffeln“ hätten sie gespielt.
Partie wurde nach 189 Minuten abgebrochen
Am 18. Juni 1922 standen sich der HSV und Nürnberg im Grunewald-Stadion in Berlin vor 30.000 Zuschauern erstmals gegenüber. Und hätte es damals schon Elfmeterschießen gegeben, wäre die weitere Geschichte nie passiert. Nach 90 Minuten stand es 2:2. „Ein Tritt an seinen Kopf hatte das 2:1 für den Club begünstigt“, erzählte der Stellinger Bau-Ingenieur Martens seinen Enkeln dazu. Egal. Es wurde verlängert. Gespielt werden sollte, bis ein Tor fällt – die erste Version des „Golden Goal“. Doch nach 189 (!) Minuten musste die Partie wegen hereinbrechender Dunkelheit abgebrochen werden.
Also Wiederholungsspiel. Dabei muss es wohl zugegangen sein wie bei den Kesselflickern, Schiedsrichter Peco Bauwens hatte alle Mühe, Spieler und Emotionen zu kontrollieren. Im Spielbericht erwähnte Bauwens laut „125 Jahre HSV“ eine Auseinandersetzung zwischen dem Nürnberger Heinrich Träg und Rudi Agte: „,Agte hat Lump zu mir gesagt’, beschwerte sich Träg. Agte versuchte sich zu entschuldigen, aber Träg ließ das nicht gelten, sondern erklärte ihm, ihn fünf Minuten vor Schluss kaputt treten zu wollen.“
Vereinsgeschichte: Abpfiff wurde zum DFB-Skandal
Träg wurde wegen Foulspiels schließlich in der 100. Minute vom Platz gestellt, wie bereits in der 18. Minute sein Mannschaftskamerad Willy Böß. Nach den Verletzungen von Anton Kugler und Luitpold Popp hatte der „Club“ in der Verlängerung nur noch sieben Spieler auf dem Feld – acht waren aber mindestens vorgeschrieben. Schiedsrichter Bauwens, der spätere DFB-Präsident (1950–1962), brach die Partie deshalb beim Stand von 1:1 nach 105 Minuten und insgesamt 294 Minuten ab. Er machte dabei jedoch einen entscheidenden Formfehler, weil er in einer Pause das Spiel beendete. Er hätte es wieder anpfeifen, durchzählen und dann abbrechen müssen. Hat er aber nicht. So kam es zu diesem frühen DFB-Skandal.
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Für Torwart Martens und die meisten anderen HSV-Spieler aus der Finalschlacht vor 100 Jahren hatte die Geschichte dennoch ein Happy End. Ein Jahr später gewannen sie erstmals die Meisterschaft – ganz regulär dank eines 3:0 in Berlin gegen Union Oberschönweide. „Die Goldene Ehrennadel dafür habe ich noch und einige Fotos“, sagt Michael Winzer. „Kontakte zu anderen Nachfahren aus dieser Meistermannschaft aber gibt es nicht. Eigentlich schade.“