Hamburg. 102 Jahre nach dem ersten Hamburger Derby könnte die Vorherrschaft wechseln. Was das für die Stadt bedeuten würde.

Alles begann am 7. Dezember 1919. Sportplatz am Rothenbaum. Nach dem Zusammenschluss der drei Vereine SC Germania von 1887, dem Hamburger FC von 1888 und dem FC Falke 06 trifft der neu gegründete HSV erstmals in einem Pflichtspiel auf den Hamburg-St. Pauli Turnverein. In der damaligen „Hamburg Liga“ hat der heutige FC St. Pauli von 1910 gegen den Lokalkonkurrenten keine Chance. Mit nur neun Mann – einer von ihnen kam erst fünf Minuten nach dem Anstoß – geht St. Pauli mit 0:9 gegen den HSV unter. Ein Ergebnis, das in den Jahrzehnten danach keine Seltenheit bleiben sollte.

102 Jahre und 45 Tage nach dem ersten Treffen kommt es an diesem Freitag (18.30 Uhr/Sky und Liveticker auf abendblatt.de) im Volksparkstadion zur 107. Auflage des Stadtderbys zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli. Doch in der langen Geschichte dieses Spiels ist diesmal etwas anders. Zum ersten Mal in der Historie der beiden Clubs steht zu diesem Zeitpunkt der Saison das einstmals kleine St. Pauli (Platz eins) vor dem einstmals großen HSV (Platz fünf).

Würde sich dieser Tabellenstand bis zum Saisonende manifestieren, wäre die Machtverschiebung im Hamburger Fußball perfekt. Dann würde der Stadtteilverein erstmals in einer höheren Liga spielen als der sechsmalige deutsche Meister HSV. Die lange Geschichte von David gegen Goliath wäre gedreht. Ein Szenario, das man sich im Volkspark nicht erträumen möchte. Das am Ende der Saison aber nicht mehr nur ein Albtraum sein kann, sondern die Realität. Und schon jetzt stellen sich die Fragen: Wie konnte es so weit kommen? Und vor allem? Was würde ein Machtwechsel für die Stadt Hamburg bedeuten?

Überholt St. Pauli den HSV? Wie alles begann

Es war die Woche vor dem ersten Zweitligaderby am Millerntor im März 2019, als St. Paulis Präsident Oke Göttlich einen Satz sagte, über den er sich einige Tage später mit Sicherheit ärgerte. „Wenn der Fußballgott gerecht ist, dann gewinnt der FC St. Pauli und steigt auch vor dem HSV auf, weil man irgendwann auch mal die Quittung bekommen muss für das, was alles schiefgelaufen ist in den letzten Jahren“, sagte Göttlich vor laufender Kamera im NDR.

Schief lief es aber dann nur für den FC St. Pauli, der im eigenen Stadion beim 0:4 vom HSV gedemütigt wurde. Torhüter Tom Mickel rammte bei der Feier vor den Gästefans eine HSV-Fahne in den Rasen. Und der gekränkte Kiezclub entließ vier Wochen später Trainer Markus Kauczinski – als Tabellensechster mit nur vier Punkten Rückstand auf den FC Union Berlin, der am Ende der Saison in die Bundesliga aufstieg. Heute ist Union in der Hauptstadt die neue Nummer eins. Kann das auch der FC St. Pauli in Hamburg schaffen?

Göttlichs Worte von 2019 sind rund drei Jahre später wieder aktuell. Dabei ist es gerade ein Jahr her, dass der Kiezclub einmal mehr mitten im Abstiegskampf steckte. Mit zehn Punkten aus 15 Spielen stand St. Pauli auf Platz 17 der Zweiten Liga. Der HSV dagegen führte mit 30 Punkten die Tabelle an. Doch während im Volkspark in den Wochen darauf einmal mehr die Nervosität einkehrte, traf Göttlich die wahrscheinlich beste Entscheidung seiner mittlerweile siebenjährigen Amtszeit. Gemeinsam mit Sportchef Andreas Bornemann entschied er, Trainer Timo Schultz das Vertrauen auszusprechen. Der Ostfriese spielte mit St. Pauli daraufhin das wahrscheinlich beste Kalenderjahr der Vereinsgeschichte und besiegte den HSV im Stadtderby gleich zweimal.

Stellt St. Pauli finanzielle Lage auf den Kopf?

Beim Lokalrivalen versucht sich dagegen nach Christian Titz, Hannes Wolf, Dieter Hecking und Daniel Thioune mit Tim Walter nun der fünfte Trainer seit dem Abstieg 2018, die Macht in der Stadt wieder auf die Seite des HSV zu ziehen. „Wir müssen die Zukunft neu schreiben“, sagte Walter am Donnerstag. „In der Historie ist der HSV der größere Verein. Aber was war, bringt uns nichts.“

Dabei hört man immer wieder, dass der HSV auch bei einem Aufstieg des FC St. Pauli der größere Club bleiben wird. Und faktisch stimmt das ja auch. Der HSV hat mehr Mitglieder, mehr Fanclubs, er hat mehr Pokale im Museum, und er hat das größere Stadion. Aber auf die Größe kommt es eben nicht an.

Und sie wird dem HSV auch nicht mehr helfen, wenn es um die Verteilung der TV-Gelder geht. Noch kann der Club seinen Etat für den Kader bei rund 20 Millionen Euro halten, während St. Pauli rund 15 Millionen investiert. In der kommenden Saison könnten sich diese Zahlen drehen. Bei einem Aufstieg würde St. Pauli schon im ersten Jahr seine Einnahmen aus den Fernsehverträgen verdreifachen auf dann rund 30 Millionen Euro. Der HSV dagegen könnte bei einem Klassenverbleib in der TV-Tabelle weiter sinken und bei den Erlösen auf unter 20 Millionen Euro fallen. Es wäre allein schon finanziell die größtmögliche Machtverschiebung in der Stadt seit Einführung der Bundesliga 1963.

HSV kämpft mit St. Pauli um Geld

Dass der HSV finanziell in einer schwierigen Situation steckt, hat natürlich auch mit der anhaltenden Corona-Pandemie und den fehlenden Zuschauereinnahmen zu tun, die vor allem den HSV schwer treffen. Es ist aber eben auch in der wirtschaftlichen Herangehensweise begründet. Während St. Pauli bis zur Corona-Krise neun Jahre in Folge ein Plus erwirtschaftete, hielt sich der HSV an den Leitsatz, den der ehemalige Clubchef Bernd Hoffmann in seiner ersten Amtszeit als Maßgabe formulierte: größtmöglicher Erfolg bei gleichzeitiger Vermeidung der Insolvenz. Zweiteres ist dem HSV bislang noch immer gelungen – nur der sportliche Erfolg blieb mit fortlaufender Dauer aus. Zudem gab es elfmal in Folge ein Millionenminus.

Der Kampf um die Stadt ist an diesem Freitag daher nicht nur das Spiel auf dem Rasen, sondern auch der Kampf um das Geld. Dabei hat die Frage nach der künftigen Nummer eins in der Stadt auch Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Hamburg. War der HSV in den vergangenen Jahren ein großer Treiber für den Tourismus, könnten sich diese Effekte in der Stadt verschieben.

Aktuell hätten beide Vereine noch eine ähnliche Strahlkraft, sagt Andreas Lagemann (33) vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). „Wirtschaftlich betrachtet sorgen der HSV und der FC St. Pauli noch immer dafür – sofern es die Corona-Regeln zulassen – dass jede Woche ein sportliches Großereignis in Hamburg stattfindet und die Stadt für Auswärtsfans ein beliebtes Ziel ist. Davon profitiert der Tourismus enorm“, sagte Lagemann dem Abendblatt. Sollte St. Pauli in der Bundesliga spielen, könnte der Verein der größere Treiber für Auswärtsfans werden.

Was Wachablösung für Hamburg bedeuten würde

Die Gefahr, dass St. Pauli bei einem Ligenwechsel für Sponsoren interessant wird, die bislang eher dem HSV zugeneigt waren, sieht der Ökonom nicht. „Beide Vereine haben mit ihrer Geschichte und ihrer politischen Marke eine eigene Strahlkraft, deshalb kann man sie nicht miteinander vergleichen. Gleichzeitig konkurrieren sie aber auch nicht so stark um Sponsoren, weil beide Clubs eine unterschiedliche Zielgruppe an Sponsoren haben.“ Lagemanns Hoffnung: „Das Beste wäre, wenn beide Vereine aufsteigen, dann wäre das Interesse größer, das Aufkommen der Fans größer, die Umsätze der Vereine größer und es würde immer noch das Derby geben.“

Die Chance, dass der HSV und der FC St. Pauli ihr 108. Stadtderby in der kommenden Saison in der Bundesliga austragen, besteht durchaus. Genauso wie die Chance, dass St. Pauli den Aufstieg noch verspielt und der Rivale aus dem Volkspark in die Bundesliga zurückkehrt. Dann wären die Verhältnisse in der Stadt vorerst wieder beim Alten.

Für den Wirtschaftsstandort spielt es aber ohnehin keine Rolle, welcher der beiden Vereine künftig wieder erstklassig spielt. „Hauptsache Hamburg ist in der Bundesliga“, sagt Malte Heyne. Der 42-Jährige ist Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Hamburg. „Für die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt wäre es erst einmal egal, ob die Effekte vom HSV oder von St. Pauli ausgehen“, sagt Heyne und meint damit ebenfalls den Einfluss auf den Tourismus. Wichtig seien die Vereine aber auch als große Arbeitgeber in der Stadt, an dem viele Dienstleister hängen. Und die würden alle mehr verdienen, wäre Hamburg wieder erstklassig. „Die Dimensionen liegen in der Bundesliga 30 bis 40 Prozent höher“, sagt Heyne.

Der Wirtschaftsexperte, der seine Promotion über die ökonomischen Effekte der Fußball-WM 2006 in Deutschland geschrieben hat, hält aber auch noch zwei weiche Faktoren für entscheidend: Den Imageeffekt der Clubs für die Stadt und den sogenannten Civic Pride, also den Bürgerstolz. „Wenn ein Hamburger Club in der Bundesliga oder international erfolgreich ist, wäre das die beste Imagewerbung für die Stadt Hamburg“, sagt Heyne. „Sportlicher Erfolg macht stolz, schweißt zusammen und zieht Unternehmen an. Dieser Sogeffekt wäre wichtig für die Stadt und die Wirtschaft.“

Hier wird der HSV immer vor St. Pauli liegen

Im Bereich der medialen Aufmerksamkeit hat der HSV deutschlandweit im Vergleich mit St. Pauli dagegen noch immer die Nase klar vorn. Der HSV ist neben den Bundesliga-Absteigern Schalke und Bremen der Quotenbringer der Liga. Schon siebenmal wurde der HSV in dieser Saison von den Rechteinhabern Sky und Sport1 zum Topspiel bestellt. St. Pauli musste erst einmal am späten Sonnabend ran – Anfang Dezember bei Fortuna Düsseldorf. Bei Sky waren in der vergangenen Saison die fünf Quoten-Bestwerte allesamt Montagabendspiele mit HSV-Beteiligung.

Die Aufmerksamkeit der Medien dürfte dem HSV also weiterhin sicher sein. Gefahr läuft der Club dagegen, in der Fanszene junge Anhänger langfristig an den FC St. Pauli zu verlieren. In der anhaltenden Corona-Pandemie haben Clubs wie der HSV durch das fehlende Stadionerlebnis ohnehin Probleme, ihre Fans zu halten. Wann die Ultras angesichts der Zuschauerauflagen wieder zu den Heimspielen des HSV kommen, ist aktuell noch völlig ungewiss.

HSV vs. St. Pauli: Nur 2000 Fans beim Derby

An diesem Freitag dürfen nur 2000 Zuschauer im Volksparkstadion dabei sein. 200 von ihnen werden Gäste-Anhänger sein. Sportsenator Andy Grote (SPD) wird aufgrund der eingeschränkten Kapazität nicht in der Arena sein, verpassen will er das Spiel aber nicht – insbesondere nach den jüngsten Erfolgen der beiden Zweitligisten im DFB-Pokal gegen die Bundesligisten Köln und Dortmund. „Mit Hamburg macht Fußball wieder Spaß: Nach dem historischen Doppel-Coup im DFB-Pokal schaut ganz Deutschland auf Hamburg und das Derby“, sagt Grote. „Ich freue mich auf ein leidenschaftliches Kräftemessen unserer beiden Bundesligisten-Besieger.“

Den FC St. Pauli hat der HSV im Volksparkstadion zuletzt vor 21 Jahren besiegt. 4:3 hieß es damals im Dezember 2001. Seitdem gab es aber auch nur noch ein Spiel in der Bundesliga im Volkspark. Erstmals hatte es das Stadtderby in der Ersten Liga 1977 gegeben. St. Pauli überraschte den HSV an jenem Tag im September mit 2:0. Franz Gerber und Wolfgang Kulka sorgten für einen 2:0-Auswärtssieg. Geholfen hat das am Ende nicht. St. Pauli stieg noch im selben Jahr als Schlusslicht wieder ab, der HSV wurde ein Jahr später Deutscher Meister.

Eine echte Rivalität gab es in dieser Zeit unter den Fans noch kaum. Das änderte sich erst Ende der 80er-Jahre, als bei den Anhängern des FC St. Pauli in der Zeit der Häuserkämpfe an der Hafenstraße das politische Lagerdenken begann und beim HSV in der Westkurve des Volksparkstadions Skinheads und Neonazis breit. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei.

Politisch trennt die Fans heute gar nicht mehr so viel. Doch auch sportlich haben sich die Clubs seit dem Abstieg des HSV immer weiter angenähert. Nun könnte die Vorherrschaft wechseln. Und das nach 102 Jahren.